Fröndenberg. Fröndenberg vor einem Jahr: An einem Sonntag im Juli geht förmlich die Welt unter, als eine Gewitterzelle die Stadt unter Wasser setzt.

Der 4. Juli 2021 beginnt in Fröndenberg als ganz normaler Sommersonntag. Doch als sich kurz vor Mittag über der Stadt eine riesige Gewitterzelle zusammenbraut, ahnen viele: Das wird gefährlich. Wie Jörg Müller, Geschäftsführer der Lübbering Umwelttechnik in Neimen: „Das war ein gespenstisches Szenario. Es war pechschwarz“, berichtet der Geschäftsführer kurz danach der WP. Eine dunkle Wand über Westick habe bereits auf dem Weg angezeigt, was folgen sollte: der Wolkenbruch des Jahrhunderts. „Erst auf dem Weg zum Betrieb habe ich den Ernst der Lage erkannt. Mir hat’s die Sprache verschlagen“, erinnert sich Jörg Müller.

Hunderte Notrufe aus Fröndenberg gehen in kürzester Zeit bei der Feuerwehr ein

In Neimen angekommen, ist von der Straße, dem Bahnübergang oder dem Hof auf dem Betriebsgelände schon nichts mehr zu sehen. Braune Brühe steht kniehoch dort, wo sonst Lastwagen ihre Lieferungen abladen. An ein Durchkommen zum Betrieb ist nicht mehr zu denken, Müller ruft bei der Feuerwehr an, wo binnen weniger Stunden hunderte Notrufe eingehen. Denn mehrere Ortsteile vor allem im Osten sind massiv betroffen, nachdem es zwei Mal hintereinander wie aus Eimern gegossen hat.

Wasser und Schlamm drücken in Gebäude, Autos werden weggspült

Nach dem schweren Unwetter in Fröndenberg wird dieses Auto in Neimen unter eine Brücke gespült.
Nach dem schweren Unwetter in Fröndenberg wird dieses Auto in Neimen unter eine Brücke gespült. © N.N. / Privat

In vielen Wohnhäusern sieht es längst aus wie in Müllers Betrieb, vor allem in Westick, Neimen, Warmen und Frohnhausen: Überall drücken Wasser und Schlamm ins Erdgeschoss zahlreicher Gebäude. Wald- und Wirtschaftswege weisen Abbrüche auf, Autos sind abgesoffen, das Altenheim Löhnbachtal mit 55 Bewohnerinnen und Bewohnern muss evakuiert werden, ebenso wie viele Häuser an der Westicker Straße. Dort droht ein großer Angelteich im Hang seine Wassermassen mit Wucht über die Häuser von bis zu 500 Menschen auszuschütten. Die Bewohner der Keller- und Erdgeschosse werden rausgeklingelt und in Sicherheit gebracht, der Penny- und der Netto-Markt schließen. Der Ausnahmezustand dauert so lange, bis es THW und Feuerwehr schließlich gelingt, die gefährdete Deichkrone des Teichs und den Hang zu sichern – mit 2000 Sandsäcken und 250 superschweren schottergefüllten „Bigpacks“ von Herbrügger aus Menden.

Überflutetes Altenheim wird aufgegeben, Freibadsaison im Löhnbad beendet

Ein im Einsatz verunglücktes Feuerwehrfahrzeug wird mit einem Kranwagen geborgen. Inzwischen sind alle Fahrzeuge der Feuerwehr Fröndenberg wieder flott, teils nach längerer Reparaturzeit.
Ein im Einsatz verunglücktes Feuerwehrfahrzeug wird mit einem Kranwagen geborgen. Inzwischen sind alle Fahrzeuge der Feuerwehr Fröndenberg wieder flott, teils nach längerer Reparaturzeit. © Karsten Zimmer

Die Wehrleute wollen Jörg Müller unterdessen nicht alleine auf sein Betriebsgelände lassen. Zu groß ist die Gefahr durch die Schlammmassen. „Das war wie eine kleine Flutwelle“, beschreibt der Unternehmer. Ähnliches berichten Anlieger wie Lea und Jens Einzel aus Neimen: Das Wasser habe sich vor ihrem Haus mit einer Großtagespflege so lange aufgestaut, bis die massive Haustür mit unvorstellbarer Kraft einfach eingedrückt wurde und alles in einem Schwall in die Wohn- und Spielräume eindrang. Viele Möbel und das Spielzeug für die Kinder sind völlig unbrauchbar geworden.

Den Badegästen im Löhnbad bleibt kaum Zeit zur Flucht: Zu wenig, um noch aufs Motorrad zu steigen.
Den Badegästen im Löhnbad bleibt kaum Zeit zur Flucht: Zu wenig, um noch aufs Motorrad zu steigen. © Andreas Dunker

Der Sachschaden bei Müller liegt indes im sechsstelligen Bereich. In ganz Fröndenberg geht er in die Millionen. Die unmittelbaren Aufräumarbeiten dauern noch viele Wochen, manche Wohnhäuser müssen sogar von Grund auf renoviert werden. Das Altenheim Löhnbachtal wird später komplett aufgegeben. Das Wasser im nahen Löhnbad ist braun, die Freibadsaison ist hier zu Ende. Die Bahnlinie von Fröndenberg nach Wickede ist überflutet und gesperrt, Fußball- und Golfplätze bleiben noch lange unbenutzbar.

Bei allem Unglück: Fröndenberg hat keine Verletzten zu beklagen

Jörg Müller äußert jedoch schon zwei Tage nach der Katastrophe die Befürchtung, dass sich auch Fröndenberg in Zeiten des Klimawandels auf mehr Ereignisse dieser Art gefasst machen kann. „Ich glaube, wir müssen uns grundsätzlich darauf einstellen, dass sich solche Wetterlagen häufen werden. Wie recht er damit hat, ahnt der Unternehmer da noch nicht. Nur ganze zehn Tage später ist Fröndenberg erneut betroffen. Diesmal allerdings durch eine große Starkregenfront, die große Teile von NRW und Rheinland-Pfalz trifft. Was Fröndenberg bei allem Unglück erspart bleibt, geschieht vor allem im Ahrtal: Allein dort sterben mindestens 133 Menschen.

Freiwillige Feuerwehr Fröndenberg arbeitet auf Hochtouren – Viel Hilfe von außen

Zusammenarbeit auch mit schwerem Gerät: Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW) bekämpfen gemeinsam den drohenden Dammbruch im Hang bei Westick.
Zusammenarbeit auch mit schwerem Gerät: Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW) bekämpfen gemeinsam den drohenden Dammbruch im Hang bei Westick. © Andreas Dunker

Voll des Lobes ist Jörg Müller unter dem Eindruck des ersten Unwetters für die heimische Feuerwehr. Die Ehrenamtlichen der Ruhrstadt sind schier überall, erhalten aber rasch auch Verstärkung, erst aus Menden, dann aus allen Teilen des Landes. Hunderte Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks, allen Hilfsverbänden und vieler Feuerwehren helfen in Fröndenberg. Das ist bei der zweiten Starkregen-Katastrophe anders: Dann wird nahezu jede Wehr im Umkreis mit der Rettung der eigenen Stadt beschäftigt sein.

Bei der Stadtverwaltung sind jetzt Sofortmaßnahmen gefragt

Zurück zum 4. Juli: Nach dem Starkregen und dem Abpumpen zeigt sich im Fröndenberger Stadtgebiet, dass zig Erdgeschosse vorläufig unbewohnbar geworden sind. Die Stadtverwaltung will Betroffenen helfen, deren Existenz durch das Unwetter in Gefahr geraten ist. Sofortmaßnahmen sind jetzt gefragt: Mit Spendengeld sucht man Lösungen für obdachlos gewordene Menschen, mietet Ferienwohnungen an, das DRK Menden richtet die Gesamtschule als Übergangsquartier ein, auch für die Evakuierten von der Westicker Straße. Die Hilfsbereitschaft auch in den Nachbarschaften ist und bleibt zugleich riesig – nicht nur unter direkt Betroffenen, die sich untereinander helfen. Viele kommen in den kommenden Tagen und Nächten bei Freunden und Verwandten unter.

Nutznießer der Notlage entsorgen Sperrmüll auf Kosten der Allgemeinheit

Doch es gibt auch Nutznießer der Notlage: Eine Gratis-Sperrmüllabholung der Stadt für Opfer des Unwetters wird Tage später von Schmarotzern zur kostenlosen Entrümpelung ganzer Wohnungen missbraucht, die kein bisschen feucht geworden sind. Manche karren ihren Sperrmüll sogar aus Nachbarstädten an. An den Straßenrändern in Fröndenberg finden sich neben verschlammten Möbeln auch Autoreifen, Porzellan oder Plastikspielzeug. Besonders dreist: Halbprofessionelle Abfallsammler durchsuchen diese Berge, nehmen wertvolles Altmetall mit und lassen ihren Restmüll da. Zwei Gruppen tragen ihren Streit um die besten Stücke sogar offen auf der Kreuzung am Hirschberg aus.

Stadt-Sprecherin Ulrike Linnenkamp fasst das Geschehen in vier Worten zusammen: „Das macht mich fassungslos.“