Essen-Südviertel. Im Essener Haus der Geschichte lagern 6931 Personenstandsbücher. Warum die Suche nach den Ahnen oft zur Detektivarbeit wird.

Nehmen wir an, es geht um Onkel Willi. Geboren 1902 in Stoppenberg, gestorben 1987 in Karnap. Nachname: Wiesner.

Nehmen wir weiter an, wir möchten etwas über Wilhelm Wiesner und seine Vorfahren herausfinden. Wir gehen also ins Stadtarchiv, in Erwartung alter Akten, die uns alles verraten: Wo kam er her, wo hat er früher gewohnt, was hat er gelernt, wie hieß seine Mutter, wer waren ihre Geschwister? Und dann stehen wir im Lesesaal und erfahren von Diana Ratke, oder einer ihrer Kolleginnen und Kollegen: Ganz so einfach ist es nicht.

Der Bestand des Essener Stadtarchivs wächst jedes Jahr: Heiratsbücher, Geburtenbücher, Sterbebücher

Wenn Diana Ratke, Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, kurz FaMI, von ihrer Arbeit erzählt, begreift auch der Laie schnell: Archivarbeit ist Detektivarbeit. „Leider gibt es nicht einen Karton für eine Familie, in dem dann alles drin ist“, sagt sie. „Man muss sich die Informationen aus verschiedenen Quellen zusammensuchen – und dabei kreativ denken.“

Der Quellen gibt es viele: 6931 Personenstandsbücher lagern im Haus der Geschichte. Darunter Heiratsbücher, Geburtenbücher, Sterbebücher. Und nicht alle darin archivierten Akten reichen gleich weit zurück: Das liegt an gesetzlich festgeschriebenen „Fortführungsfristen“, die bestimmen, wann welche Akten von den Standesämtern an die Archive gegeben werden. Beim Geburtenbuch sind das beispielsweise 110 Jahre nach dem darin dokumentierten Geburtsjahr. „Wir haben hier also keinen abgeschlossenen Bestand, sondern er wächst jährlich“, erklärt Diana Ratke. „Nächstes Jahr kommen die Geburtenbücher von 1914.“

Essener Standesamtsbezirke wurden reduziert, Straßen umbenannt, Straßenverläufe verändert

Archivmitarbeiterin Monika Meier steht zwischen meterlangen Regalen mit Heiratsbüchern.
Archivmitarbeiterin Monika Meier steht zwischen meterlangen Regalen mit Heiratsbüchern. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Weitere kleine und große Hürden bei der Recherche: Standesamtsbezirke wurden im Laufe der Zeit reduziert – Essen hatte einst 23 –, Straßen im Zuge von Eingemeindungen umbenannt oder im Verlauf verändert, und Personenstandsregeln immer wieder überarbeitet. Beispiel Heiratsbuch: Mal wurde der Beruf des Vaters in einer Urkunde mit angegeben, mal wurden die Eltern bei Eheschließungen gar nicht eingetragen, mal wurden Trauzeugen angegeben, nach 1938 wurden die Geburtsdaten der Eltern eingetragen.

Jutta Vonrüden-Ferner, Diplom-Archivarin und seit 1993 im Haus der Geschichte tätig, jongliert mit Jahreszahlen und historischen Verwaltungsfakten, dass einem schwindlig wird: „Je nachdem, in welchem Jahr etwas eingetragen wurde, kann sich ein vollkommen anderer Aussagewert ergeben“, erklärt sie.

Diplom-Archivarin Jutta Vonrüden-Ferner arbeitet seit 1993 im Haus der Geschichte.
Diplom-Archivarin Jutta Vonrüden-Ferner arbeitet seit 1993 im Haus der Geschichte. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Überhaupt findet sich nur in den Akten, wer in Essen geboren wurde, dort gewohnt oder geheiratet hat, oder dort verstorben ist. Letzteres ist bei mancher Familienrecherche nur eine vermeintlich gesicherte Information. Jemand, der bis zu seinem Lebensende in Karnap gelebt hat, aber nicht im Sterbebuch auftaucht, ist vielleicht im Krankenhaus der Nachbarstadt Gelsenkirchen verstorben. „Der Tod wird dort beurkundet, wo er eingetreten ist“, sagt Archivmitarbeiterin Monika Meier.

Früher schrieben Essener ihre Namen auf unterschiedliche Weise – oder änderten sie komplett

Wer 1924 in Essen geheiratet hat, ist in diesem Buch zu finden.
Wer 1924 in Essen geheiratet hat, ist in diesem Buch zu finden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Dann ist da noch die Sache mit den Namen, denn da variieren die Schreibweisen nicht nur, weil etwa der unterschreibende Vater seinen Nachnamen anders schrieb als der Standesbeamte, sondern auch weil so mancher seinen Namen ändern ließ: „Polnisch klingende Nachnamen konnte man in den 1920er Jahren auf Antrag eindeutschen“, erklärt Jutta Vonrüden-Ferner.

Jüdische Menschen bekamen in der Zeit des Nationalsozialismus den Beinamen Sarah bzw. Israel aufgezwungen. „Das wurde nach dem Krieg wieder aufgehoben“, so die Archivarin. Bis heute erhalte das Archiv mehrmals im Monat Anfragen aus aller Welt, von Nachfahren jüdischer Menschen, die ihre Wurzeln erforschen. „Das rührt mich immer sehr an.“

Stadtarchiv hilft bei der Suche

Jährlich werden im Stadtarchiv ca. 2500 Anfragen gestellt, davon fallen über 80 Prozent in den Personenstandsbereich. Von diesen 80 Prozent bestehen ca. 60 Prozent aus Anfragen mit rechtlichem Hintergrund (wie Erbenermittlung); ca. 40 Prozent fallen in den Bereich der privaten Familienforschung.

Viele Unterlagen sind digitalisiert und online einsehbar, andere können vor Ort im Lesesaal am PC angeschaut werden. Bis 2025 oder 2026 sollen alle Akten digitalisiert sein. Manche Leistungen des Archivs sind gebührenpflichtig, wie etwa Kopien, oder ein Rechercheauftrag.

Doch eine private Recherche, etwa im Lesesaal, kostet erst einmal nichts. Auch eine Beratung vor Ort bieten die Mitarbeiterinnen an. „Ziel der Archivierung ist die Nutzbarmachung“, sagt Daniela Ratke. „Wir möchten, dass die Leute vorbeikommen.“

Neben Erbenermittlungen gehört die private Familienforschung im Stadtarchiv. „Manchen wird im Alter die eigene Endlichkeit bewusst, und sie beginnen, sich mit ihren Wurzeln zu beschäftigen“, sagt Monika Meier. Aber auch jüngere Menschen würden sich auf Spurensuche begeben. Und oft sind es nicht nur reine Fakten, sondern auch die Geschichten dahinter, die sich plötzlich aus zahlreichen alten Urkunden zusammenfügen.

Hieß Wilhelm Wiesner also früher mal Wisniewsky, weil er seinen Namen hat eindeutschen lassen? Ist er nicht in Karnap gestorben, sondern in Gelsenkirchen? Onkel Willi hat es nicht gegeben – aber wenn doch, würde man ihm gemeinsam mit den Detektivinnen des Stadtarchivs sicher auf die Spur kommen.

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