Ennepetal. Die ersten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind in Ennepetal angekommen. Die Familie erzählt ihre tief bewegende Geschichte.

Kurz nachdem die russische Armee in den Morgenstunden des 24. Februar ihren Angriff auf die Ukraine startete, da entschlossen sie sich zu fliehen: Alexander und Olga Scheschegov luden das Allernötigste in einen Mercedes Sprinter und brachen gemeinsam mit ihrem zweijährigen Sohn Michail sowie Olgas 20-jähriger Tochter Anastassia Stolbowskaja und deren einjährigem Sohn Artemi auf. Zurückbleiben musste Anastassias Mann, weil ukrainische Männer das Land nicht verlassen dürfen. Alex Scheschegov hat einen kasachischen Pass. Nun sind alle in Ennepetal.

„Nimm den Bus und bring’ Deine Familie in Sicherheit“, hatte Alexander Scheschegovs Chef gesagt und ihm den Transporter überlassen. Von ihrem Wohnort Zoloche, einem südöstlichen Vorort von Kiew, machten sie sich am Freitag, 25. Februar, frühmorgens auf den Weg. Allein für die 600 Kilometer bis zur polnischen Grenze brauchte die Familie fünf Tage. Am vergangenen Donnerstag kamen sie als eine der ersten Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine in Ennepetal an.

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An der polnisch-ukrainischen Grenze, in Medyka, waren sie schon erwartet worden. Vitalij Krawez und sein Vater Oleg, entfernte Verwandte der Scheschegovs, hatten sich zur gleichen Zeit aus Oberbauer auf den Weg gemacht. „Wir hatten Sorge, dass sie auf uns warten müssen“, berichtet Oleg Krawez. Schließlich hatten er und sein Sohn 1300 Kilometer vor sich. Doch in der Ukraine war eine endlos lange Fahrzeugschlange in Richtung Polen unterwegs. Und so warteten beide tagelang, nahmen sich ein Hotel. Dann endlich, am Mittwoch, hatten es die Scheschegovs geschafft. Und nach kurzer Verschnaufpause ging es weiter, zu Familie Krawez nach Hause.

Am Tag nach der Ankunft in Ennepetal auf der Terrasse der Familie Krawez in Oberbauer. Links Natalja Krawez.
Am Tag nach der Ankunft in Ennepetal auf der Terrasse der Familie Krawez in Oberbauer. Links Natalja Krawez. © WP | Hartmut Breyer

Die Flucht wurde zur Tortur. Schon in Kiew sei es mit dem Tanken sehr schlecht gewesen, berichtet Alexander Scheschegov. In Kiew hätten sie auch keine Lebensmittel mehr für die Fahrt kaufen können. „Man konnte kein Geld mehr holen und die Supermärkte waren zu.“ Je näher sie an die Grenzen kamen, desto langsamer ging es voran. Der Stau war bis zu 40 Kilometer lang, neben den Autos gingen viele zu Fuß Richtung Grenze – und waren schneller. „Drei Meter fahren, eine halbe Stunde stehen“, erzählt der 50-Jährige, der zwischenzeitlich ans Umkehren dachte. Unterwegs begegneten ihnen russische Soldaten mit Waffen, Panzern, einige auch, die mit Schaufeln Kanäle neben der Straße anlegten. In Städten, durch die sie fuhren, hätten Sirenen geheult. In erkennbare Gefahr gerieten die Fünf glücklicherweise nicht. Eine Tortur war es dennoch, mit zwei kleinen Kindern fünf Tage in einem Transporter leben zu müssen. Und am Ende wurde auch noch der Diesel-Kraftstoff knapp.

Erst kürzlich in Kiew besucht

Erst vor wenigen Wochen hatten sich beide Familien noch gesehen – in Kiew. Oleg Krawez und seine Frau Natalja, Sohn Vitalij, Nataljas Schwester Tatjana Schmalz und deren Sohn Daniel aus Schwelm hatte die Verwandtschaft besucht. „Wir haben dort noch Weihnachten, Silvester und das russische Weihnachten zusammen gefeiert“, erzählt Natalja Krawez. Zu der Zeit seien die Leute in Kiew ganz ruhig gewesen, es sei nirgendwo zu sehen gewesen, dass man sich auf einen Krieg vorbereitet. „Niemand hat geglaubt, dass so etwas passieren würde.“ Ein Ziel der zweiwöchigen Reise war auch Odessa. Dort wurde Natalja Krawez’ Mutter 1941 geboren, als Deutsche. Sie lebt ebenfalls in Oberbauer. Sie hätten sogar das Haus ihres Opas gefunden, so Natalja Krawez. Und nun, keine zwei Monate später, ist fraglich, ob sie jemals wieder dorthin reisen und ob die Scheschegovs irgendwann einmal nach Kiew zurück kehren können.

Ein Blick auf die Fahrzeug- und Menschenkolonne.
Ein Blick auf die Fahrzeug- und Menschenkolonne. © WP | Privat

Am Donnerstag gegen 3 Uhr endete die Fahrt nach fast 2000 Kilometern in Ennepetal. Zunächst nahm Familie Krawez die Fünf auf. Für einen längeren Aufenthalt fehlt im Haus aber der Platz. Am Freitag suchte Natalja Krawez mit den Kriegsflüchtlingen zunächst das Bürgerbüro auf, von wo sie ins Rathaus verwiesen wurde. „Dort wussten sie schon, dass wir kommen. Wir sind sehr freundlich empfangen worden“, sagt Natalja Krawez. Flüchtlingsbetreuerin Aliena Rexa kümmerte sich um die Neuankömmlinge. Alexander, Olga und Michail sowie Anastassia und Artemi erhielten jeweils ein Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft an der Heimstraße. Dort können sie nun erst einmal bleiben. Am Montag geht es wieder ins Rathaus, um Weiteres zu regeln.

Große Hilfsbereitschaft

Dankbar zeigen sich alle für die Hilfsbereitschaft, die ihnen an vielen Stellen begegnete. In einem Dorf, kurz vor der polnischen Grenze hatten die Bewohner sich am Straßenrand aufgereiht und die Flüchtenden, zum allergrößten Teil Frauen mit Kindern, mit Suppe, Wasser und Brot versorgt. Sogar Windeln bekam die Familie. In Polen konnten Fahrzeuge mit ukrainischem Kennzeichen an den Mautstationen einfach durchfahren. Und Natalja Krawez, die in der Offenen Ganztagsbetreuung der Grundschule Altenvoerde arbeitet, habe von ihren Kolleginnen und Kollegen sofort Schuhe, Kleidung, Kindersitze, einen Kinderwagen und sogar einen Fernseher für die fünf Geflüchteten bekommen.

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Nun heißt es für die Familie, hier erst einmal zur Ruhe zu kommen. Besonders schwer ist das für Anastassia Stolbowskaja. Sie hat seit Tagen nichts mehr von ihrem Mann Nikolaj Rybka gehört. Alexander Scheschegov telefonierte mit Freunden und Kollegen und hörte von den schweren Angriffen auf Kiew. Die Artilleriegeschosse, Bomben und Raketen mögen für die Fünf nun weit weg sein – die Angst um Familie und Freunde ist hingegen nach Ennepetal mitgereist.