Ennepetal. 1949 kam Anna Gudat nach Ennepetal. Nach Vertreibung und langer Gefangenschaft fand sie in der gerade erst gegründeten Stadt eine neue Heimat.
„Ennepetal ist so schön. Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, hier wegzuziehen.“ Anna Gudat ist anzusehen, dass diese Worte aus tiefstem Herzen kommen. Seit dem Jahr der Stadtgründung ist sie hier zu Hause und hat eine neue Heimat gefunden. 1949 war sie als 23-Jährige angekommen. Nach furchtbaren Jahren der Vertreibung aus der ostpreußischen Heimat und in russischer Gefangenschaft begann für sie ein neues Leben in der gerade gegründeten Stadt.
Anna Gudat, geborene Rau, wuchs auf einem Bauernhof in Auxinnen (Freudenau) nahe der Grenze zu Polen und Litauen auf. „Wir haben einfach und gut gelebt“, erzählt sie und fügt schmunzelnd hinzu: „Bei uns war alles immer Bio, weil es gar nichts anderes gab.“ Doch der Zweite Weltkrieg brachte für sie und ihre Familie eine harte Zäsur. Wie so viele andere verloren die Gudats alles Hab und Gut – und ihre Heimat. 1944 musste die Familie fliehen, wurde auf Dörfer in Ostpreußen verteilt. „Etwas nach Weihnachten kamen dann die Russen“, erinnert sich Anna Gudat, die damals gerade 18 Jahre alt war. Sie landete auf einem Gestüt in Insterburg, bevor sie, eingepfercht mit vielen anderen, in einem Waggon nach Karelien/Russland transportiert wurde. „Wir hatten nichts, nur das was wir am Leib trugen.“ Zu essen gab es trockenes Brot. „Ich weiß gar nicht, wie wir das alles überlebt haben“, meint sie.
Postkarten an die Verwandtschaft
Viele Dokumente hat Anna Gudat aus den Nachkriegsjahren aufbewahrt, darunter Papiere, die auch den Stempel der noch jungen Stadt Ennepetal tragen.
Sie ist auch noch im Besitz mehrerer Postkarten, die sie aus dem Lager in Krasnokamsk im Ural an Verwandte und nachdem sie den Aufenthaltsort kannte auch an ihre Mutter Berta „nach Verneis über Milspe“ schickte. Befördert wurde die Post vom Roten Kreuz bzw. Roten Halbmond.
Maximal 26 Wörter durfte sie anfangs schreiben. Eine Karte vom 30. Januar 1947 im Wortlaut: „Meine Lieben! Bin gesund. Wie gehts Euch? Hoffe alles Gute. Wo ist Mutti, Fritz und Verwandte? Grüße an alle, die mich kennen. Eure Anni.“
In einem Barackenlager in Karelien wurde sie mit 1000 anderen Gefangenen untergebracht, arbeitete dort an einem Kanal. Der Winter war lang und hart. „Viele sind dort gestorben“, so Anna Gudat. Im Herbst 1946 kam sie noch weiter nach Osten, in die Region Perm im mittleren Ural, wo sie in mehreren Lagern lebte und zu verschiedenen Arbeiten herangezogen wurde. Am 17. Oktober 1949 wurde Anna Gudat aus dem Lager in Krasnokamsk entlassen und konnte nach Deutschland reisen. „Ich bin in diese Region gekommen, weil ich hier Verwandte hatte“, erklärt sie. Ihre Mutter war bereits aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen in Ennepetal gelandet, ebenso ein Onkel.
14 Tage dauerte es, bis Anna Gudat nach fast 4000 Kilometern über Frankfurt/Oder und das Flüchtlingslager Friedland schließlich in Hagen mit dem Zug ankam. Mit der Straßenbahn ging es weiter nach Verneis, von dort über den Berg zum Hof Nordmeier am Voßwinkel, wo ihre Mutter Berta und ihr Bruder Fritz schon wohnten. Später arbeitete die Mutter auf dem nahe gelegenen Hof Brinkmann, die Familie durfte dort in einem kleinen Häuschen wohnen. Anna Gudat fand bei der Firma Fritz Dannert in Voerde Arbeit, Bruder Fritz Rau, der heute noch in Oberbauer lebt, bei der Firma Saure. Nach einiger Zeit konnte die Familie eine Genossenschaftswohnung in Hasperbach beziehen, die Bekannte ihnen übertragen hatten.
Viele Freunde gehabt
„Ich habe Ennepetal als sehr nette Stadt kennengelernt“, erinnert sich Anna Gudat an die Anfänge in der neuen Heimat. „Wenn die Menschen einen Teller übrig hatten, haben sie uns etwas gegeben.“ In Ennepetal kam sie mit Herbert Gudat zusammen, einem Nachbarsjungen und Freund des Bruders aus der ostpreußischen Heimat. Sie heirateten und zogen in eine Gebau-Wohnung an der Goethestraße. „Zu zweit bekam man so eine Wohnung nicht, also kam meine Schwiegermutter mit dazu.“ Die zog später nach West-Berlin zu ihrer Tochter, wo Herbert und Anna Gudat sie oft mit dem Motorrad, später mit dem Auto besuchten.
„Ich wohne jetzt seit 64 Jahren in diesem Haus“, erzählt Anna Gudat. Mit ihrem Mann, der 2011 starb, hat sie zwei Kinder: Sohn Armin, der lange in London lebte, aber als überzeugter Ennepetaler vor einigen Jahren zurückkehrte, und Tochter Anita Schöneberg, die als SPD-Ratsfrau Erste Bürgermeisterstellvertreterin ist. „Ich habe bis 1955 gearbeitet, dann die Kinder erzogen“, erzählt Anna Gudat. „Das war eine gute Zeit. Wir hatten zu essen, zu trinken und eine schöne Wohnung.“ Ganz viele Freunde hätten sie und ihr Mann gehabt. „Das waren alles nette und einfache Menschen“, meint sie. Dem Heimkehrerverband, später dem Bunde der Vertriebenen und der Landsmannschaft Ostpreußen schlossen sie sich an.
In den ersten Jahren habe sie gar nicht wahrgenommen, dass Ennepetal als Stadt ganz neu gegründet worden war. „Das habe ich nur mal von Nachbarn gehört“, meint Anna Gudat. Es habe für sie nur Voerde, Milspe oder Oberbauer gegeben, die Idee der Stadt habe sie erst später nachvollzogen. „Wir waren aber weltoffen, hatten auch immer eine Zeitung.“ Und in der Familie habe es oft politische Diskussionen und „Action am Tisch“ gegeben.
Nie rückwärts gewandt
Seit sie in Ennepetal ihre neue Heimat gefunden hatten, lebten Anna und Herbert Gudat stets im Hier und Jetzt. „Meine Eltern waren nie rückwärts gewandt“, meint Anita Schöneberg. Ihre Mutter hat eine einfache Begründung dafür: „Wir wussten, wir kommen nicht mehr nach Hause.“ Also haben sie sich Ennepetal zu ihrem neuen Zuhause gemacht.