Schwelm. Auch in Schwelm gab es einmal jüdisches Leben. Marc Albano-Müller führte jetzt Nachkommen aus den USA zu den Stätten ihrer Vorfahren.
Zu einem Besuch nach Schwelm kam jetzt die jüdische Familie Auerbach aus den USA. Sie folgte einer Einladung von Marc Albano-Müller, der zu den früheren jüdischen Mitbürgern der Stadt forscht und bereits zu zahlreichen Familien von Nachkommen Kontakt aufgenommen hat. Die Vorfahren der Auerbachs lebten einst im Dorf Langerfeld und waren Teil der Schwelmer Jüdischen Gemeinde. Da Langerfeld sich bis 1922 noch Schwelm zuordnete, kamen die Langerfelder Juden nach Schwelm zur Synagoge und nutzen auch die Jüdische Schule und den Jüdischen Friedhof der Stadt.
Der Friedhof brachte Marc Albano-Müller auf die Spur der Auerbachs. Seit einigen Jahren betreut der Schwelmer diesen Ort ehrenamtlich und recherchiert dabei dessen Geschichte. Er stieß hier auf die Namen von drei Langerfelder Familien, die Auerbachs, Barmés und Frankenbergs. Alle waren einst im Metzgersberuf tätig – ähnlich wie in Schwelm die alteingesessenen Familien Calmann und Rosendahl. Die Berufe des Metzgers und Viehhändlers war einmal die einzigen, die man den Juden zugestand.
Detektivische Recherche
Von Metzger Levi Auerbach im 19. Jahrhundert führte die Spur über seinen Sohn Simon und dessen Sohn Julius im 20. Jahrhundert aus Langerfeld in die USA und dort bis in die Universitätsstadt Gainesville in Florida. Die detektivische Recherche brachte Albano-Müller hier zuletzt zu einem Dr. David Auerbach, 76 Jahre alt und angesehener Lungenarzt. Es erwies sich als schwierig, zu ihm direkten Kontakt aufzunehmen, so dass Albano-Müller einen Umweg über den örtlichen Rabbiner ging, und dieser endlich die Verbindung herstellte.
Familie wohnte einst in Langerfeld
Mit Begeisterung nahm Dr. Auerbach die Kunde von den Wurzeln seiner Familie in Langerfeld und Schwelm auf. Bis dahin hatte er kaum mehr als den Namen des Geburtsorts seines Vaters Julius gekannt. Umgehend buchte der Arzt zusammen mit Frau Carol einen Flug nach Deutschland. Mit dabei: Sohn Simon mit Enkel Adam. Simon Auerbach, 41, arbeitet in Chicago als Rechtsanwalt, Sohn Adam, 6, besucht eine jüdische Tagesschule.
In Schwelm trat die Familie gemeinsam auf dem Jüdischen Friedhof am Ehrenberg an die Gräber der Großeltern und Urgroßeltern. Dr. Auerbach fand sich von Rührung überwältigt. Er entdeckte auf dem Grabstein seiner Großmutter Rosette, geb. Nathan, auch den Namen ihres Mannes Simon eingraviert. Dieser war eigentlich im amerikanischen Exil gestorben. Sein Sohn Julius muss nach dem Krieg veranlasst haben, dass der Name noch auf den Grabstein in Schwelm ergänzt wurde. Dr. Auerbach betete für die Großeltern ein Kaddish, ein jüdisches Totengebet. Ihm stand vor Augen, wie sein Vater 1938 die Schwelmer Heimat bei Nacht und unter Lebensgefahr hatte verlassen müssen.
Marc Albano-Müller führte seine Gäste weiter an den Ort, der einmal der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Schwelm war. In der Kirchstraße lebten im 19. Jahrhundert mehrere jüdische Familien benachbart in den Häusern Nr. 10, 12, 13 und 15, nahezu alle waren Metzger und Viehhändler. Die vier Häuser bilden heute einen kleinen, stimmungsvollen Platz. Gleich nebenan lag die Synagoge und Jüdische Schule. Familie Auerbach aus Langerfeld kam regelmäßig an diesen Ort.
In Langerfeld wurden die amerikanischen Gäste von Bezirksbürgermeister Eberhard Hasenclever erwartet. Er führte sie zu den einstigen Häusern der Familie in die Kurze Straße. Hausnummer 2 und 4 sind als großes Doppelhaus 1903 durch Simon Auerbach erbaut worden. Im rechten Hausteil wurde Dr. Auerbachs Vater Julius 1906 geboren, hier lag auch die Metzgerei. Im linken Teil praktizierte sein Onkel Dr. Ludwig Auerbach als Allgemeinarzt. Die heutigen Besitzer des Hauses erinnern, dass man in Langerfeld noch lange nach dem Krieg um die ortsbekannte Familie Auerbach wusste. Nur war die Verbindung völlig abgebrochen. Das, versprach Simon Auerbach aus Chicago am Ende dieses Besuchs, werde künftig anders sein.
Die Familiengeschichte Auerbach
Um 1840 zog Levi Auerbach (1821–1888) als junger Mann und Metzgerlehrling in das Langerfelder Dorf. Er brachte es zu einer eigenen Metzgerei und kam sehr spät, erst mit 48 Jahren, zu Sohn Simon (1869-1946). Simon ging in Schwelm auf die Jüdische Schule. Die Familie besuchte, wie alle Langerfelder Juden, zum samstäglichen Sabbat und den anderen jüdischen Feierlichkeiten die Synagoge in Schwelm. Den 4 km langen Weg erleichterte ihnen ab 1897 die „Elektrische“, eine eingleisige Straßenbahn von Barmen über Schwelm bis Möllenkotten. Auerbachs stiegen gleich hinter ihrem Haus ein, gelegen rückseitig und unterhalb der Langerfelder Kirche.
Auch die Mutter von Dr. David Auerbach, Ruth, stammte aus einer jüdischen Metzgerfamilie. Metzgerei und Handelsgeschäfte brachten Levi ein solides Vermögen und ein großes Haus ein, das er bei seinem Tod dem 19-jährigen Simon hinterließ. Der riss das elterliche Fachwerkhaus bald ab und errichtete 1903 die heute erhaltenen Häuser Kurze Straße 2 und 4. Hier gründete er eine Familie mit vier Kindern, Ludwig, Julius, Clara und Rosa.
Metzgerei in Schwelm, Flucht vor den Nazis, Neuanfang in New York
Sohn Julius (1906-1991) sollte den Familienberuf fortführen und erlernte das Handwerk in der elterlichen Metzgerei. Geschlachtet wurde hinter dem Haus. Noch heute besitzt Dr. David Auerbach in Florida zwei rostige Schlachtbeile aus Langerfelder Zeiten.
Vater Simon und Mutter Rosette erfuhren im Dezember 1938 mit Entsetzen, dass Julius von der Straße weg verhaftet worden war. Mord und Folter in den frühen Konzentrationslagern waren zu dieser Zeit schon bekannt. Mit anderen jungen jüdischen Männern wurde Julius auf der benachbarten Polizeistation festgehalten. Der örtliche Polizeivorsteher hatte bei Simon private Schulden und bot ein diskretes Tauschgeschäft an. In der Nacht ließ er Julius frei. Der floh umgehend mit seiner Frau Ruth über die Grenze nach Frankreich. Beide emigrierten in die USA.
Auch die drei Geschwister von Julius konnten noch rechtzeitig in die Emigration entkommen. Gemeinsam gelang es ihnen, zu letzter Gelegenheit auch den alten Vater Simon aus Langerfeld und Deutschland herauszuretten. Ein Visum für die USA war Simon verwehrt, seine Flucht führte ihn zunächst nach Kuba. Erst 1943 konnte er zu den Kindern in New York aufschließen. Alle kamen in der Bronx unter, in einer weitgehend jüdischen Nachbarschaft.
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Julius und Ruth jobbten einige Jahre, bis sie genügend Geld gespart hatten, um sich ein eigenes „Delicatessen“ zuzulegen, ein Kleinst-Geschäft für Waren des täglichen Bedarfs. Als besonderen Service konnte hier Julius seinen Kunden auch schon mal fachgerecht einen Truthahn tranchieren. Keinen einzigen Tag Urlaub genehmigte sich das Paar über 20 Jahre hinweg, sie hielten ihren Laden sieben Tage die Woche von morgens 7 bis abends 9 Uhr geöffnet, selbst an Chanukka, Pessach und Yom Kippur.
Mit Sohn David, der die ersten 15 Lebensjahre in der Bronx verbrachte, sprachen die Eltern ein Gemisch aus Deutsch und Englisch. Geflucht wurde verlässlich auf Deutsch. Auf den Tisch kam viel Fleisch und Kartoffeln, besonders gerne auch Leberwurst und Matjesfilet. Nur sprechen mochten die Eltern, so erinnert sich Dr. David Auerbach, über Deutschland und die Heimat in Langerfeld und Schwelm nie mehr.