Ennepetal. Weil Bevölkerung und Jugendamt immer genauer hinschauen, werden immer mehr Familien mit Kindern in Südwestfalen überprüft.
Sie hielt es nicht mehr aus. Das Mädchen, keine zehn Jahre alt, vertraute sich in der Schule einem Sozialarbeiter an: Es werde zu Hause von den Eltern geschlagen. Immer wieder. Und zwar heftig. Zuhause: Der Ort, der Schutz bieten sollte, rief nur noch Angst hervor. Dieser Fall von Kindeswohlgefährdung landete neulich auf dem Schreibtisch von Dagmar Ante. „Wenn ich mir bei einer Entscheidung nicht sicher bin, dann stelle ich mir manchmal vor, was das Kind wohl in einigen Jahren zu mir sagen würde, wenn ich es wiedertreffe“, sagt die Jugendamtsleiterin der Stadt Ennepetal.
Dort zeigt sich, was exemplarisch für Nordrhein-Westfalen steht: Die Zahl der Überprüfungen, ob Kindeswohlgefährdung vorliegt, steigt. Von 2017 auf 2018 um zehn Prozent. Daraus resultiert eine steigende Zahl festgestellter akuter Kindeswohlgefährdungen.
Anstieg um 407 Prozent
„Viele Menschen, dazu gehörte auch ich, denken, dass die Welt an einem Ort wie Ennepetal noch in Ordnung ist, dass es manche Dinge nur in Großstädten wie Berlin, München oder Frankfurt gibt“, sagt Ante: „Aber das stimmt nicht.“ Die tägliche Arbeit seit 2002, sagt sie, habe sie das gelehrt. Im Ennepe-Ruhr-Kreis stieg die Zahl der festgestellten akuten Kindeswohlgefährdungen im vergangenen Jahr um 115 Prozent. Noch dramatischer sieht es in Hagen aus. 116 Prozent. Die Zahl der Überprüfungen stieg um sagenhafte 407 Prozent.
Das liege, teilt die Stadt auf Anfrage mit, an einer 2017 neu eingeführten Erfassung. Jeder aktenkundige Fall von häuslicher Gewalt, der sich in einem Haushalt mit Kindern oder Jugendlichen abspielt, landet seitdem automatisch auch beim Jugendamt und wird auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung hin überprüft. Auch im Kreis Olpe (plus 53 Prozent Überprüfungen) sind die Fallzahlen – im Gegensatz zum Hochsauerlandkreis – deutlich steigend.
Bundeskinderschutzgesetz hilft seit 2012
Drei Gründe für den NRW-Trend kennt das Landesjugendamt Westfalen-Lippe. „Erstens schlägt das 2012 verabschiedete
Bundeskinderschutzgesetz mehr und mehr durch“ sagt Sprecher Markus Fischer. Mit dem Gesetz wurde u.a. die Kommunikation zwischen Institutionen wie zum Beispiel Jugendamt, Schule, Gesundheitsamt, Krankenhaus vereinfacht. Zweitens seien immer mehr Kinder in der U3-Betreuung angemeldet und damit früher als in der Vergangenheit institutionell erfasst. „Drittens liegt die Zunahme an einem veränderten Meldeverhalten der Bevölkerung und Institutionen. Die Menschen schauen nun genauer hin“, sagt Fischer.
Das ist auch der Eindruck von Dagmar Ante. „Ereignisse wie jene in Lügde tragen dazu bei, dass das Thema ins Bewusstsein der Menschen rückt und dass alle wissen, wie wichtig die Arbeit der Jugendämter ist“, sagt sie. Lügde ist der Schauplatz tausendfachen sexuellen Missbrauchs an Kindern, der den zuständigen Jugendämtern über Jahre trotz zahlreicher Hinweise verborgen geblieben war.
Einvernehmliche Lösung gesucht
„Es ist ein Problem: wo fängt Kindeswohlgefährdung an und wo hört sie auf“, fragt Dagmar Ante. Jedem Hinweis – auch den anonymen – geht das Jugendamt Ennepetal nach eigener Aussage nach. Nie entscheidet einer allein. Ist die vermutete Dringlichkeit hoch, kommt es zu einem schnellen, unangekündigten Besuch bei den Eltern. „Meistens sind wir mit zwei Fachkräften vor Ort und versuchen, einen Eindruck zu erhalten oder eine offensichtliche Notlage einvernehmlich mit den Eltern zumindest abzuschwächen“, sagt die Expertin.
Eltern und Jugendamt sitzen dann idealerweise an einem Tisch, je nach Alter kann auch das Kind dabei sein. „Wir versuchen immer, die Belastung für das Kind so gering wie möglich zu halten“, sagt Ante. Widerstand ist nicht selten. „Das Kind aus der Familie zu nehmen, ist das absolut letzte Mittel. Das kommt wirklich selten vor“, sagt Ante. Ihr ist wichtig zu betonen, „dass das Jugendamt nicht nur eine Eingriffs-, sondern vor allem eine Unterstützungsinstanz ist.“
Gegen den Willen der Eltern
Im Falle des Mädchens, das von seinen Eltern geschlagen wurde, musste das Jugendamt allerdings eingreifen. Es wurde gegen den Willen der Familie in Obhut genommen. Kinder kommen in solchen Fällen zum Beispiel vorerst zu Verwandten oder in Pflegefamilien. Den Eltern wurde Hilfe angeboten. Sie nahmen sie an. Mittlerweile ist das Kind zurück bei ihnen. Ein Mitarbeiter des Jugendamtes ist mehrmals in der Woche stundenweise bei der Familie.
Was dieses Mädchen in ein paar Jahren mal zu Dagmar Ante sagen würde? Die Jugendamtsleiterin weiß es nicht. Sie weiß nur: „Kein Kind will weg von seinen Eltern, es will nur, dass die Notlage ausgeräumt wird.“