Gevelsberg. . Selbsthilfegruppe für Menschen mit Demenz im frühen Stadium sucht Verstärkung. Treffen bietet Raum für ein Stück weit Normalität

Gesichter, die vergisst er nie, jedoch immer häufiger die Namen dazu. „Ich sage dann immer Herr oder Frau Doktor.“ Die Leute lachen, der peinliche Moment ist Günther erspart geblieben, dieses Mal. „Ich hatte ein brillantes Gedächtnis“, sagt er. Irgendwann habe er dann nicht mehr alle Geburtstage im Kopf gehabt. Heute weiß er, dass er an Demenz im frühen Stadium leidet. In der Selbsthilfegruppe kann er über seine Aussetzer reden, über die Momente, die er am liebsten vergessen würde, aber nicht kann. „Jeder hat seine eigene Demenz“, sagt er, „und es ist kein Kraut dagegen gewachsen.“

An jedem ersten Mittwoch

Bewegung hilft, neue Reize setzen auch, es sei wichtig, seinen Kopf zu beschäftigen, sagt Sören Klehm. Das sei das einzige, das man tun kann. Der Mann vom Pflege- und Gesundheitsmanagement der Stadt Schwelm begleitet gemeinsam mit Karin Sell die Gruppe. Auch wenn der Alltag der Betroffenen mit etwas Hilfe noch zu meistern ist, ohne Unterstützung würde die Selbsthilfegruppe schon lange nicht mehr existieren. Weil für jeden irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die Krankheit die Kontrolle übernommen hat.

„Wir waren mal 20 Leute“, sagt Günther, heute sind es nur vier. Dabei würden so viele Menschen an Demenz leiden, er würde sich freuen, wenn die Gruppe größer würde. Der fast 90-Jährige ist von Anfang an dabei, das müsste so vor acht Jahren gewesen sein. Zahlen sind heute nicht mehr so seine Sache. Er weiß: „Je stärker die Demenz fortgeschritten ist, desto weiter geht man zurück in seiner Vergangenheit.“ An Lieder aus der Schulzeit erinnert er sich plötzlich wieder, an Klassenkameraden und vor allem an ihre Namen, aber kaum noch an die damaligen Gruppenmitglieder. Er habe aber noch Glück. Bei ihm schreite die Demenz langsam voran und habe erst spät begonnen, da sei er Anfang 80 gewesen. Zumindest habe er zu diesem Zeitpunkt wahrgenommen, dass seine Vergesslichkeit mehr ist als eine Alterserscheinung.

Hans Georg wollte lange Zeit nicht wahrhaben, dass etwas nicht mit ihm stimmt. „Ich war Lehrer, Lehrer haben immer Recht“, sagt er und lacht. Als die Kinder angefangen hätten, ihn zu korrigieren, wusste er gar nicht, was mit ihm geschieht. Kurz danach musste er aus dem Schuldienst ausscheiden, und sein Leben neu organisieren.

„Ich brauche feste Strukturen“, erklärt er. Und selbst die stellen ihn vor Herausforderungen. „Ich gehe jeden Tag einkaufen.“ Seine Frau gebe ihm immer einen Einkaufzettel mit, ohne gehe er schon lange nicht mehr aus dem Haus. Ein gutes Training, das Sören Klehm jedem empfiehlt. Auch wenn Hans Georg jeden Tag in die selben Geschäfte geht. „Das Schwarzbrot suche ich immer.“

Die Selbsthilfegruppe für Menschen mit Demenz im frühen Stadium trifft sich immer am ersten Mittwoch im Monat, von 15 bis 17 Uhr, in den Räumen der KISS an der Kölner Straße. Sören Klehm schreibt jedem Teilnehmer vor jedem Termin einen Brief mit Adresse und Uhrzeit. Er ruft auch immer kurz vorher an. Als Erinnerung.

Hans Georg zeigt den Brief, den er in seiner Brusttasche unter dem Pullover trägt. Er steckt in einem Block. „Den habe ich immer bei mir, ohne ihn würde ich nicht klar kommen.“ Dort steht, wo er sein Auto geparkt hat, wo er hin möchte, wo er wohnt, was er gerade tun will. „Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als unterwegs zu sein und plötzlich nicht mehr zu wissen, was man da eigentlich macht“, pflichtet ihm der andere Günter in der Gruppe bei. Jeder in der Runde nickt und bleibt stumm.

Der Alltag verändert sich

Seinen Namen schreibt man übrigens ohne h, wie auf dem Schild vor ihm zu lesen ist. Auch wenn die Menschen in der Gruppe miteinander vertraut sind, Namen spielen hier keine Rolle.

Günter ist 56 Jahre alt, vor etwa einem halben Jahr wurde die Demenz festgestellt. Bei ihm schreitet sie schnell voran, das weiß auch Günter. Das kann er auch nicht vergessen, weil er immer wieder daran erinnert wird. Freunde hätten sich abgewendet, Menschen würden ihm über den Mund fahren, wenn er mitten im Satz vergisst, was er sagen wollte. Das sei sehr belastend. „Aber ich lasse mich nicht unterkriegen, kämpfe, so lange ich kann, dagegen an.“

Der andere Günther sagt: „Die Leute glauben, Demenz ist die Vorstufe zum Irresein. Das ist sie nicht.“ Man sei immer noch der Alte. Doch der Alltag wird anders, wenn die Gedanken verloren gehen.

In der Gruppe kann jeder sein, wie er ist. Es wird darüber hinweg gesehen, wenn eine Geschichte mehrfach wiederholt wird, Worte fehlen. Ihre Krankheit nimmt den kleinsten Raum bei den Treffen ein. „Wir spielen, erzählen und unternehmen viel“, erklärt Karin Sell.

Eine große Ladung Berliner Ballen liegt auf dem Tisch, Kaffee, Luftballons. Ein Stück weit Normalität in der jecken Karnevalswoche, und manchmal blitzen sie doch durch, die ernsten Gedanken, die niemand verdrängen kann. „Wann ist es soweit, dass man in ein Heim muss, ab wann ist die Belastung für die Familie zu groß?“, fragt Hans Georg. Die Antwort hat niemand. Jeder kämpft seinen eigenen Kampf. Günter versucht, viel Sport zu machen, Zeit mit der Enkelin zu verbringen. Hans Georg hat seinen Block und eine ganz eigene Strategie mit den Namenlosen umzugehen. „Ich nenne jeden Paul.“ Das nimmt ihm niemand übel.