Schwelm/Hagen.

Advija M. muss wegen Totschlags achteinhalb Jahre ins Gefängnis. Die 2. Schwurgerichtskammer des Hagener Landgerichts hat am Montagnachmittag im zweiten Prozess gegen die 46-jährige Schwelmerin das Urteil gefällt und ist deutlich von der Entscheidung am Ende der ersten Verhandlung abgewichen. Da hatte die Schwelmerin, die einer 88-jährigen Mund und Nase zugehalten hatte, bis sie nicht mehr atmete, nur vier Jahre wegen gefährlicher Körperverletzung bekommen.

Eine Tochter der getöteten Waltraud F. machte ihre Genugtuung mit einem leisen „Ja!“ deutlich, als der Vorsitzende Richter Marcus Teich das Urteil verkündete. Die Angeklagte hatte sich zuvor in ihrem so genannten letzten Wort an die Familie gewandt: „Sehr geehrte Familie F. Es tut mir schrecklich leid, was geschehen ist.“ Dann übermannten sie die Tränen.

BGH hob das erste Urteil auf

Der Bundesgerichtshof hatte das Urteil aus der ersten Verhandlung im März dieses Jahres aufgehoben, weil nicht ausreichend begründet worden sei, warum kein Tötungsdelikt vorgelegen habe. Daher wurde der Fall vor einigen Wochen erneut aufgerollt.

Am 22. Oktober 2013 hatte die chronisch verschuldete Advija M. ihre 88-jährige Nachbarin aufgesucht, um sich Geld zu leihen. Während des Treffens kippte die Stimmung. Die an Demenz leidende Seniorin schrie plötzlich los, sah in ihrer Besucherin eine Räuberin. Advija M. wollte sie am Schreien hindern – nur daran hindern, wie sie sagte – und drückte der schreienden Frau immer wieder Mund und Nase zu, bis diese nicht mehr atmete. Als der Angeklagten klar wurde, was geschehen war, fesselte und knebelte sie den leblosen Körper. Sie verwüstete die Wohnung, um einen Raubüberfall vorzutäuschen. Das Geld, das in den Möbeln versteckt war, nahm sie nicht mit. Danach versuchte sie, sich das Leben zu nehmen, warf sich in der Nähe des Schwelmer Hauptbahnhofs vor einen Zug, der ihr jedoch lediglich Teile der Füße abtrennte.

Staatsanwältin Beatriz Föhring forderte dafür achteinhalb Jahre wegen Totschlags für den „massiven körperlichen Angriff auf eine alte, gebrechliche Frau, deren letzte Sekunden voller Todesangst waren, bis ein qualvoller Erstickungstod eintrat“, so Föhring. Die beiden Vertreter der Nebenklage Heike Tahden-Farhat und Carsten Rebber schlossen sich an. „Für uns ist wichtig, dass eine Strafe wegen eines Tötungsdelikts erfolgt“, so Tahden-Farhat. „Es war Totschlag! Die Angeklagte hatte Zeit zu registrieren, dass ihr ein Mensch unter den Händen wegstarb“, sagte Rebber in seinem Plädoyer und verwies dabei auf den quälend langen Todeskampf.

Verteidiger Andreas Keuneke hielt während seines Plädoyers weiter daran fest, dass es sich beim Vorgehen seiner Mandantin nicht um einen Totschlag handelte und kündigte direkt im Nachgang des Urteils an, in Revision gehen zu wollen.

Laut Gutachter voll schuldfähig

Richter Marcus Teich beleuchtete in seiner Urteilsbegründung die Tat und ihre Hintergründe. „Die Angeklagte stammte aus schwierigen Verhältnissen. Die Kindheit war geprägt von Missbräuchen durch den Vater, es folgte eine schlechte Ehe. Trotz eines guten Einkommens gab es massive finanzielle Probleme.“ Geldsorgen waren für die Angeklagte mit extremer Scham besetzt. Die Kammer mutmaßte, dass gerade die Vergesslichkeit der Rentnerin ein Grund war, sich bei ihr Geld zu leihen. „Naheliegend ist, dass die Angeklagte geglaubt hat, dass die Sache mit dem Geld nicht herauskommen würde, aber das ist reine Spekulation“, so Teich. Die 46-jährige hatte behauptet, sie wisse nicht, warum sie ausgerechnet Waltraud F. um Geld bitten wollte.

Dass Advija M., die in einem zweiten psychiatrischen Gutachten als voll schuldfähig eingestuft worden war, die alte Frau töten wollte, konnte das Gericht nicht sehen. „Es war eine Tat, die so nicht geplant war. Sie wollte sie aber zum Schweigen bringen. Dass sie beschimpft wurde, war nicht wichtig für sie. Sie wollte nicht, dass das Geschehen in der Wohnung offenbar wird. Sie wollte den schönen Schein wahren“, hieß es weiter. „Dass ihre Probleme nicht nach außen drangen, das war ihr so wichtig, dass sie nicht wegging, sondern aktiv wurde und der Frau Mund und Nase zuhielt“, betonte der Richter und kam zu dem Schluss: „Ein Mensch ist gestorben, weil die Angeklagte sich geschämt hat, was auf den zweiten Blick ein gewisses Maß an Eigennutz besitzt.“ Außerdem sei die 88-jährige ein besonders schützenswerter Mensch in einer besonders schützenswerten Umgebung gewesen: der eigenen Wohnung, wo schließlich jeder sicher sein wolle.