Dortmund. Messerattacke, Brandanschlag: In Dortmund häuft sich Gewalt gegen Obdachlose, dazu der tödliche Polizei-Schuss. Menschen von der Straße erzählen.

Die Häufung dürfte Zufall sein – ein Zusammenhang besteht wohl kaum. Aber seit ein paar Tagen mehren sich die Fälle von Gewalt gegen Obdachlose in Dortmund. Tödlicher Messerangriff im Hafen, Brandattacke in der Fußgängerzone, dazu kommt der Vorfall an Reinoldi, wo ein aggressiver Wohnungsloser nach dem Schuss eines Polizisten starb. Was macht das mit den Menschen, die in Dortmund auf der Straße leben?

„Die Stimmung ist deutlich gedämpfter als sonst“, sagt Bastian Pütter vom Straßenmagazin Bodo. Der Streetworker kennt viele Obdachlose in der Innenstadt. Er und die anderen vom Bodo-Team sind jeden Tag unterwegs. Sie hören zu, reden, bieten Hilfe an. Auch im kleinen Bodo-Beratungscafé an der Schwanenstraße spüre man die Veränderung. Die Atmosphäre ist gedrückt, offen reden will gerade niemand.

Taten gegen Obdachlose: Gewalterfahrungen werden ausgeblendet

Nach dem tödlichen Polizeischuss auf den Obdachlosen am Donnerstag sei das Entsetzen groß gewesen, sagt Bodo-Sprecher Pütter. Die Leute hatten Redebedarf und scharten sich um den Internetrechner: Was genau ist passiert? Gibt‘s was Neues? Sie wollten alles wissen. Dann kam (nur einen Tag später) der tödliche Angriff im Hafen – und schließlich die Info über die Zündel-Attacke in der City. Das habe die Stimmung weiter verändert, meint Pütter: „Jetzt ist das eine ganz neue Dimension der Unentspanntheit.“

Ob die Leute Angst haben? „Vielleicht“, sagt Pütter. „Aber das sagen sie nicht.“ Selbst von Angriffen auf die eigene Person oder von Diebstählen erzähle kaum jemand. „Sie wollen das selbst nicht wahrhaben, verdrängen und verharmlosen es. Sonst wäre man ja ein Opfer, und das will man sich selbst nicht eingestehen, sondern blendet es aus und spielt erfahrene Gewalt herunter.“

Hast du selbst Gewalt erlebt? „Nein, nie.“ Nur ein paarmal.

Sebastian liefert direkt ein Beispiel dafür. Der Wohnungslose sitzt am Pylon hinter der Reinoldikirche auf dem Boden. Seit zehn Jahre lebe er auf der Straße, sagt er. Hat er selbst schon Angriffe erlebt? „Nein, nie“, meint er ohne zu überlegen und fügt beiläufig hinzu: „Nur einmal hat mir einer das Knie in die Brust gerammt. Und mit einem Döner hat mir jemand ins Gesicht geschlagen. Und naja, geklaut wird halt immer.“

Angst habe er trotz der Vorfälle der letzten Tage nicht. Seine Devise: „Wenn man da schläft, wo viele Leute sind, passiert weniger.“ Den Toten von der Reinoldikirche habe er zwar nicht gekannt, aber „die Polizei hätte nicht so schnell schießen dürfen. Kann doch mal passieren, dass man ausrastet.“

„Die Polizei hätte nicht so schnell schießen dürfen. Kann doch mal passieren, dass man ausrastet.“ Markierungen erinnern an den tödlichen Polizeieinsatz an der Dortmunder Reinoldikirche.
„Die Polizei hätte nicht so schnell schießen dürfen. Kann doch mal passieren, dass man ausrastet.“ Markierungen erinnern an den tödlichen Polizeieinsatz an der Dortmunder Reinoldikirche. © Funke Medien NRW | Lisa Goedert

Oli dagegen ist schon etwas mulmig. Er sitzt auf dem Hansaplatz neben einem Abgang zur Tiefgarage und schläft immer nahe der Stelle, an der ein Unbekannter das Schlaflager der obdachlosen 72-Jährigen angezündet hat. Außer einer Brandblase hat sie nichts, die Polizei behandelt den Fall dennoch als versuchte Tötung.

Oli kennt die 72-Jährige gut. Er gibt zu, seit der Zündel-Attacke mehr Angst zu haben: „Man schläft nur so halb, und immer mit einem Auge offen“, sagt er. Den Schlafplatz wechseln wolle er trotz der Nähe zum Tatort nicht. „Woanders wird man ja sofort verscheucht. Aber da lässt man uns schlafen, wenn wir keinen Lärm machen und unseren Müll wegräumen.“

Das Level der Gewalt ist seit Jahren hoch – jetzt nicht höher als sonst

Und Jojo, das Urgestein vom Ostenhellweg? „Ich muss keine Angst haben. Ich hab ja den hier“, sagt er und hält einen schwarzen Holzstiel hoch. „Mir kann keiner was.“ Jojo ist um die 60, lebt seit Jahrzehnten auf der Straße und hat alles erlebt. Auch er kennt das Opfer der Brand-Attacke und meint: „Sie hat einen Fehler gemacht. Sie hat sich hinter ihren Sachen und Schirmen versteckt. Aber man muss sich immer davorlegen und die Sachen schützen.“

Ob das beim Schlagen gegen die Flammen geholfen hätte ist fraglich. Das mit der Aggressivität und Gewalt – ja, das werde immer schlimmer, meint Jojo. Von Angst wolle er trotzdem nichts wissen. „Ich kann gut mit dem Stock umgehen. Ich habe eine Nahkampfausbildung.“

Jojo ist wohl auch so ein Fall von Ausblenden und Schönreden. „Irgendwann fangen sie an, Geschichten zu erzählen“, weiß Streetworker Bastian Pütter. „Am Ende glauben sie es selbst und können nicht mehr zwischen wahr und erfunden unterscheiden.“ An der grundsätzlichen Situation von Obdachlosen auf der Straße ändert das natürlich nichts. „Das Level der Gewalt ist seit Jahren hoch, und jetzt gerade nicht höher als sonst“, meint er. Hinter Angriffen auf Obdachlose stecke ein bestimmtes Menschenbild. „Mit denen kann man‘s ja machen. Einigen Menschen fehlt jedes Unrechtsbewusstsein.“

Nicht zur Polizei: „Noch eine Niederlage erträgt man nicht.“

Von Angriffen erfahren Bastian Pütter und die anderen Bodo-Mitarbeitenden oft erst spät. Oder gar nicht. Die Betroffenen sagen lieber nichts. Aus Scham – und zum Selbstschutz, um sich nicht noch mehr als Opfer zu fühlen. Auch zur Polizei gehen sie selten: „Irgendwann ist die Frustrationsgrenze erreicht“, erklärt Pütter. „Noch eine Niederlage erträgt man nicht. Man vergisst lieber.“