Dortmund. Der tödliche Polizeieinsatz vom August 2022 wird ab kommender Woche juristisch aufgearbeitet. Fünf Polizeibeamte sind angeklagt.

Seine Familie habe darauf gebaut, dass er es nach und in Deutschland schaffe. „Doch dann wird er hier von der Polizei erschossen. In einem Land, das er für sicher hielt“, sagt Rechtsanwältin Lisa Grüter. Sie vertritt die Familie von Mouhamed Dramé, einem jungen Flüchtling aus dem Senegal, dessen Tod bei einem Polizeieinsatz vor knapp eineinhalb Jahren bundesweit für Entrüstung und eine Diskussion um die Verhältnismäßigkeit der Mittel der Polizei in diesem Fall sorgte. Am kommenden Dienstag, 19. Dezember, beginnt vor dem Landgericht Dortmund die strafrechtliche Aufarbeitung des tödlichen Einsatzes. Auf der Anklagebank: Fünf Polizisten und Polizistinnen.

Der 16-Jährige wurde am 8. August 2022 auf dem Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung von einem Polizisten erschossen. Ihn trafen fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole. Gerufen worden waren die Polizisten, weil der Jugendliche damit gedroht haben soll, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen.

Dortmund: Mehrere Polizisten sind wegen des Einsatzes angeklagt

Dem 30-jährigen Beamten, der die Schüsse abgefeuert haben soll, wirft die Staatsanwaltschaft Totschlag vor. Angeklagt sind auch der Einsatzleiter (55 Jahre), zwei Polizistinnen (34 und 29 Jahre) und ein Polizist (34 Jahre). Während letzteren gefährliche Körperverletzung im Amt durch den ungerechtfertigten Einsatz von Pfefferspray und Tasern vorgeworfen wird, legt die Staatsanwaltschaft dem Vorgesetzten Anstiftung dazu zur Last.

Den Ermittlungen zufolge soll die angeklagte 34-Jährige den hockenden Mouhamed auf Anordnung des Dienstgruppenleiters mit Pfefferspray besprüht haben. Der Jugendliche soll daraufhin aufgesprungen sein und sich mit dem Messer in Richtung der Polizisten bewegt haben. Wie zuvor abgestimmt, sollen ihm die beiden weiteren Angeklagten dann aus der Distanz Stromstöße per Taser zugefügt haben, kurz bevor die Schüsse fielen.

Staatsanwalt hält schon Pfefferspray für unverhältnismäßig

Der Einsatz hatte bundesweite Diskussionen zum Umgang der Polizei mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen ausgelöst. Wie konnte das Einschreiten bei einem Suizidversuch derart schieflaufen? Und war der martialisch anmutende Einsatz einer Maschinenpistole vom Typ MP5 der Situation angemessen?

Die Staatsanwaltschaft lässt mit ihrer Anklage keinen Zweifel: Schon den vorherigen Einsatz des Pfeffersprays und der Taser schätzt sie als unverhältnismäßig ein. Es sei nicht das mildeste Mittel gewählt worden, um den jungen Mann, der mit einem Messer in der Hand auf dem Boden kauerte, vom Suizid abzuhalten oder in den Besitz des Messers zu kommen, hatte der leitende Oberstaatsanwalt Carsten Dombert bereits Wochen nach dem Einsatz kritisiert. Eine Notwehrsituation, die die letztlich fatale Intervention hätte rechtfertigen können, konnte er auch nach Abschluss seiner Ermittlungen nicht erkennen.

Zwischen 2012 und 2022 hat die Polizei laut Statistik der Deutschen Hochschule der Polizei 116 Menschen erschossen - fast immer wurden demnach Nothilfe und Notwehr, in Einzelfällen auch die Verhinderung von Verbrechen als Grund für den tödlichen Schusswaffengebrauch durch Polizisten angegeben.

Forscher: Viele Verfahren zu Polizeigewalt werden eingestellt

Dass der so hervorstechende Dortmunder Fall nun in einem öffentlichen Gerichtssaal verhandelt wird, ist für den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr bereits ein rechtsstaatlicher Erfolg. Der Professor der Akademie der Polizei Hamburg hat sich immer wieder kritisch mit Polizeigewalt auseinandergesetzt. „Häufig erfährt man von Straftaten von Polizeibeamten sehr wenig und noch häufiger werden Verfahren frühzeitig eingestellt“, sagt Behr.

Nun hofft er, dass die Richter das Geschehen so aufarbeiten, dass die Polizei aus ihren eigenen auch strukturellen Fehlern und Problemen lernen könne. „Die Polizeibeamten haben handwerkliche Fehler gemacht, die eine große Tragödie zur Folge hatten“, stellt er fest. „Gleichzeitig muss auch klar werden: Diese Beamten sind hineingeworfen worden in eine Situation, auf die sie nicht ausreichend vorbereitet worden sind. Das ist dann nicht persönliches Versagen, sondern es geht um Ausbildungsstandards und eine problematische Polizeilogik.“

Behr kritisiert konkret eine sich immer mehr durchsetzende Polizeikultur, die „größten Wert auf Überlegenheit und Auseinandersetzung“ lege und sich von der Idee der Bürger-Polizei weg und zu einer Law-and-Order-Polizei hinbewege. In Dortmund habe ein Auftreten, das Überlegenheit demonstrieren sollte, die vermeintliche Notwehrsituation erst geschaffen, die schließlich zum Tod des Jugendlichen geführt habe. „Pfefferspray und Taser deeskalieren nicht, es sind eskalierende Mittel, die Schmerzen zufügen“, sagt Behr.

Der Einsatz mit Todesfolge in Dortmund sorgte landesweit für Empörung.
Der Einsatz mit Todesfolge in Dortmund sorgte landesweit für Empörung. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Experte: Nicht jeder Einsatz mit Messer ist lebensbedrohlich

„Die Polizei tut so, als gehe es in jedem Einsatz, in dem jemand ein Messer hat, gleich um Leben und Tod. Von diesem Denken müssen wir weg“, sagt Behr. So werde in der Ausbildung stets die Situation eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs generalisiert. „Doch nicht jeder Mensch mit einem Messer in der Hand will auch zustechen“, sagt Behr. Oft gebe es im Ablauf auch Phasen der Beruhigung. „Wir müssen Polizeibeamten in Stand setzen, gerade im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen andere Bewertungen und Analysen der Situation vorzunehmen“, sagt Behr. Doch es fehle in der Ausbildung und später an Trainings mit alternativen Ansätzen.

Für die Familie Dramé gehe es nun um „Aufklärung und Gerechtigkeit“, betont Nebenkläger-Anwältin Grüter. „Sie wollen wissen, warum die Polizei ein Kind in einer Notsituation tötet“, sagt sie. Anwaltlich vertreten werden die Nebenkläger, Vater und Bruder des Verstorbenen, außerdem vom Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes, der sich als Kriminologe ebenfalls immer wieder kritisch mit Polizeigewalt auseinandergesetzt hat. Zuletzt hat er sich intensiv mit der Rolle von Polizeibeamten im Umgang mit psychisch Erkrankten befasst - eine Konstellation, die immer häufiger werde und für die es noch an polizeilicher Fortbildung mangele, wie er in einem Aufsatz schreibt. Auch er fordert größere Sensibilität und andere Einsatzkonzepte für diese Personengruppe.

Mehr Trainingstage der Polizei als Folge des tödlichen Einsatzes

Immerhin: In Reaktion auf die tödlichen Polizeischüsse in Dortmund soll in Nordrhein-Westfalen die Zahl jährlicher Trainingstage von fünf auf sieben erhöht werden. Die zusätzlichen Trainings sollen dabei vor allem der Fortbildung im Umgang mit psychischen Störungen und der Sensibilisierung für ausländische kulturelle Hintergründe dienen, hatte Innenminister Herbert Reul (CDU) im September im Innenausschuss erläutert. Außerdem müssen Beamte seit April eine Bodycam tragen. Eine Pflicht diese auch einzuschalten, gibt es aber weiterhin nicht.

Im Fall des erschossenen Mouhamed Dramé können die Richter nicht auf solches Bildmaterial zurückgreifen: Keine der mitgeführten Kameras an den Uniformen der zwölf eingesetzten Polizisten und Polizistinnen zeichnete auf .Für den Prozess hat das Gericht bislang elf Verhandlungstage bis in den April hinein vorgesehen. Erste Zeugen sollen am dritten Prozesstag aussagen. (dpa)