Balve/Neuenrade. Dr. Sarah Schniewindt ist in der Wirtschaft bestens vernetzt – egal ob im MAV oder bei der SIHK. So schonungslos fällt ihre Konjunkturanalyse aus.
Die Konjunkturdaten treiben Unternehmerinnen und Unternehmen im Hönnetal, wie anderswo in Deutschland, Sorgenfalten auf die Stirn. Fragen an die Vorsitzende des Ortsverbandes Neuenrade im Märkischen Arbeitgeberverband (MAV), in dem auch Betriebe aus Balve organisiert sind. Wie beurteilt Dr. Sarah Schniewindt die wirtschaftliche Situation?
Wie wirkt das gestiegene Zins-Niveau auf Einkaufs- und Endpreise?
Dr. Sarah Schniewindt: Grundsätzlich wirken steigende Zinsen dämpfend auf einen Preisanstieg. Die EZB (Europäische Zentralbank, Red.) nutzt das Instrument, um die Inflation zu bekämpfen. Die Preisanstiege sind in den letzten Monaten zurückgegangen. Es zeigt, dass das geldpolitische Instrument seine Wirkung entfaltet. Es hat aber auch Auswirkungen auf andere volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen, die die Konjunktur einbremsen. Zum Beispiel macht es die Aufnahme von Darlehen, Geldkrediten teurer. Dies hemmt die Investitionsbereitschaft in der Industrie, aber auch in der Privatwirtschaft. Die Baubranche bekommt dies besonders zu spüren, da viele Finanzierungen für den privaten, aber auch den kommerziellen Hausbau platzen.
Wie funktionieren die Lieferketten?
Die Lieferketten funktionieren zur Zeit wieder deutlich besser als noch vor einem beziehungsweise zwei Jahren. Damals lag es an wesentlichen Rohstoffen aus dem Ausland, die aufgrund von Corona nicht ausreichend und rechtzeitig nach Deutschland geliefert werden konnten, weil Handelswege gestört waren. Leider erwartet der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik wieder wachsende Schwierigkeiten im internationalen Handelsverkehr.
Wie hat sich die Auftragslage entwickelt?
In der Industrieproduktion erleben wir aktuell eine Seitwärtsbewegung, das heißt: kein Wachstum, aber auch keinen deutlichen Einbruch. Über alle Branchen hinweg ist leider ein Rückgang der Auftragslage zu beobachten, insbesondere in der Bauindustrie, in der Konsumgüterindustrie, in der Pharmaindustrie und in der Energieerzeugung. Dies wird dazu führen, dass auch die Industrieproduktion in den kommenden Quartalen rückläufig sein wird.
Wie sieht es mit Erlösen aus?
Die Erlöse sind in der Industrie gesunken. Die hohen Energiepreise in Deutschland machen Vor- und Zwischenprodukte teurer. Die Preissteigerungen lassen sich nicht vollständig auf die Verkaufspreise umlegen, da viele Unternehmen im weltweiten Wettbewerb stehen. Die Energiepreise sind vor allem in Deutschland extrem gestiegen, nicht in anderen europäische Staaten.
Wie sieht es mit dem Inlandsgeschäft aus?
Die deutsche Konjunktur ist zurzeit schwach. Es werden keine Wachstumsimpulse erwartet.
Wie haben sich die Exportchancen verändert?
Deutschlands Exportstärke bröckelt und damit auch der Wohlstand in diesem Land. Der Exportüberschuss war in 2022 der niedrigste in den letzten zwei Jahrzehnten. Da sich die Rahmenbedingungen in Deutschland eher verschlechtert haben, wird auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie im internationalen Vergleich darunter leiden.
Welche Rolle spielen Inflation und gestiegene Lohnkosten?
Die Inflation führt zu einer Geldentwertung und wirkt wie eine Einkommensreduzierung. Die Gewerkschaften wollen dem durch hohe Tarifabschlusse entgegenwirken. Gestiegene Löhne erhöhen wiederum die Produktentstehungskosten und folglich auch die Produktpreise. Das heizt die Inflation weiter an. Man spricht auch von der Lohn-Preis-Spirale. Und es erschwert die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Industriestandortes, da wir ohnehin schon ein Hochlohnland sind.
Wie wird die Entwicklung der Energiepreise bewertet?
Die Energiepreise in Deutschland werden weiterhin hoch bleiben. Es ist zwar positiv zu bewerten, dass durch die schnelle Inbetriebnahme der drei LNG-Terminals in Deutschland, Alternativen zum russischen Gasimport geschaffen wurden. Es wird allerdings nicht dieselbe Menge zu den niedrigen Preisen wie vor Kriegsbeginn zur Verfügung stehen. Es gibt zwei Möglichkeiten in der Industrie, Gas zu substituieren. Für die hohen Temperaturen über 1.000 Grad, die zum Beispiel für die Stahl- oder Glaserzeugung notwendig ist, lasst sich Wasserstoff verwenden. Hier steht der Aufbau einer Infrastruktur allerdings erst am Anfang. Für Fertigungsprozesse, die Temperaturen unter 1.000 Grad erfordern, ist eine Elektrifizierung denkbar. Der Strompreis ist in Deutschland aber im weltweiten Vergleich sehr hoch, da das Land mitten in der Energiewende steckt. Maximal 50 Prozent des deutschen Strombedarfs kann erst durch regenerative Energien gedeckt werden. Zudem hinkt der Netzausbau für die Stromübertragung und -verteilung um Jahre hinterher. Wenn Deutschland ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben möchte, ist es umso wichtiger, den Netzausbau mit maximaler Geschwindigkeit voranzubringen.
Wie sieht es mit Investitionen aus?
Mit den gestiegenen Zinsen sinkt die Investitionsbereitschaft, da die Finanzierungskosten steigen. Investitionstätigkeiten in Maschinen und Anlagen, Technologie sowie in Bautätigkeiten werden zurückgehalten oder geschoben. Allein die Bauinvestitionen gehen dieses Jahr laut IfW-Prognose um mehr als vier Prozent und im kommenden Jahr um drei Prozent zurück. Im internationalen Vergleich fallt Deutschland bei den Anlageninvestitionen seit Jahren zurück. Aktuell droht Deutschland dauerhaft Schlusslicht zu werden. Während in der Bundesrepublik bis Ende 2024 die Investitionen lediglich um 2,2 Prozent steigen werden, sollen sie in Großbritannien um 7,2 Prozent wachsen. Das Plus wird nicht reichen, um die wirtschaftliche Substanz zu erhalten.
Wie wirkt sich die massive Subventionierung der US-Wirtschaft auf heimische Unternehmen aus?
Die USA buhlen mit massiven Förderprogrammen auch um deutsche Unternehmen. Da die Rahmenbedingungen in Deutschland mehr als herausfordernd sind, werden deutsche Unternehmen mit bereits einem Standort in den USA, vermutlich eher in den amerikanischen als in den deutschen Standort investieren.