Arnsberg. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962, also vor 50 Jahren, brauste das Orkantief „Vincinette“ über Norddeutschland hinweg. Die Deiche hielten den gewaltigen Wassermassen vielfach nicht stand und brachen. Mehr als 300 Menschen, darunter 37 Kinder, ertranken in den Fluten. Allein im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg waren 60.000 Bewohner vom Hochwasser eingeschlossen. Feuerwehren, Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz, Bundeswehr und Tausende freiwillige Helfer waren im Dauereinsatz.
Die Arnsberger Karnevalisten steckten damals voll in den Vorbereitungen für den großen Festumzug, als sich die Nachricht von der Flutkatastrophe in Windeseile verbreitete. Es war nicht die einzige Schreckensmeldung in diesen Tagen. Eine Woche zuvor waren bei einer Schlagwetterexplosion in der Grube „Luisenthal“ bei Völklingen 299 Bergleute ums Leben gekommen.
Der KLAKAG-Vorstand berief eine Sondersitzung ein. Es wurde überlegt, angesichts solch furchtbarer Ereignisse den traditionellen Umzug ausfallen zu lassen. Umzugsleiter Hermann Streiter und Friseurmeister Franz Hansknecht hatten dann jedoch die Idee, Kinder aus den Überschwemmungsgebieten nach Arnsberg zu holen. Anton Henneke („Tünn“) erinnert sich: „Hermann Streiter rief mich abends spät an und erzählte, dass die KLAKAG eine Hilfsaktion für Hamburger Kinder durchführen möchte und fragte, ob ich ihm dabei helfen könne. Natürlich habe ich spontan zugesagt“.
Die Karnevalisten organisierten in den kommenden Tagen Unterkünfte in Arnsberger Familien, und am Freitag nach Altweiberfastnacht fuhren Busfahrer Willi Feische und sein Kollege Manfred Lange Richtung Hansestadt, begleitet von Rot-Kreuz-Schwester Grete „Tette“ Pröpper und Franz Hansknecht. Mit 38 Hamburger Kindern an Bord ging es am Samstagmorgen zurück Richtung Sauerland. Mit dabei auch die damals 7-jährige Bärbel Nötzel, die die schrecklichen Tage und Nächte im Februar 1962 noch genau vor Augen hat.
Liebevolle Aufnahme
„Ich wohnte mit meinen Eltern und meinem dreijährigen Bruder sowie der Oma in Neuenfelde unweit der Elbe. Es war die Nacht zum 17. Februar, als mein Onkel plötzlich mit den Fäusten an die Fenster hämmerte und rief: ‚Die Deiche sind gebrochen’. Wenig später stand das Wasser schon im Haus. Bei Ebbe, das Wasser war allerdings nur wenig abgelaufen, wurden wir mit einem Lastwagen nach Buxtehude gefahren und fanden dort bei einem Arbeitskollegen meines Vaters Unterkunft.“
Viele Hilfsorganisationen, Vereine und Institutionen brachten betroffene Kinder ins Binnenland. „Meine Mutter war sofort dafür und meldete mich ohne Wissen des Vaters an. Denn der hätte das nie erlaubt“, ist sich Barbara Staats, geb. Nötzel heute sicher. Das junge Mädchen wurde der KLAKAG zugeteilt und Tage später fuhr der Henneke-Bus in Neuenfelde vor. Die 38 Jungen und Mädchen bekamen eine Kennkarte umgehängt mit Namen und Anschrift und den nächsten Angehörigen.
„Auf der Fahrt saß ich anfangs völlig verängstigt auf einem der hinteren Sitze, denn ich war noch nie allein von zu Hause weg gewesen. Da kam Franz Hansknecht zu mir, nahm mich mit nach vorne zum Fahrer und fragte ‚Möchtest du bei uns wohnen?’“, erinnert sich Barbara Staats noch genau. Dies war wohl der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft mit der Arnsberger Friseurfamilie, „weil man so eine liebevolle Aufnahme nie vergisst.“ Selbst nach einem halben Jahrhundert hält die heute 56-jährige Lehrerin immer noch Kontakt zu ihrer einstigen Gastfamilie.
Erstmals Karneval erlebt
Zurück ins Jahr 1962. Während die Küstenbewohner die Schäden beseitigen und die Deiche reparieren, feiern die Narren an Rhein und Ruhr Karneval, wenn auch angesichts der Katastrophe im Norden mitunter mit einem mulmigen Gefühl.
Erstmals Karneval feiern die Kinder aus Hamburg, die in Arnsberg bereits einen Tag nach ihrer Ankunft den „Lindwurm der Freude“ miterleben dürfen. Nette Geste am Rande: Zahlreiche Helfer sind entlang des Festumzuges mit Sammelbüchsen unterwegs, um Spenden für die Flutopfer zu erbitten.
Nach vier Wochen Aufenthalt in der Ruhrstadt, vollgespickt mit Ausflügen, Rundfahrten und Besichtigungen, geht es Ende März wieder zurück an die Elbe. Viele Arnsberger, u.a. Liesel und Paul Hansknecht sowie Bürgermeister Ferdinand Enste, begleiten die Kinder nach Hause.