Hüsten. Die beiden Lokalhistoriker Reiner Ahlborn und Werner Neuhaus haben ein dunkles Kapitel der lokalen Kirchengeschichte aufgearbeitet.

Es ist zweifellos das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte: die Zeit des Nationalsozialismus. Auch das Sauerland blieb davon nicht verschont. Was vielen Menschen heute mit dem Abstand von Jahrzehnten längst nicht mehr bewusst ist, in Hüsten wurde völkisches und antisemitisches Gedankengut bereits sehr früh propagiert – von der Kanzel einer Kirche aus.

Herausgefunden haben dies die beiden Lokalhistoriker Reiner Ahlborn und Werner Neuhaus. Vor rund 20 Jahren waren beide auf unterschiedlichen Wegen auf zwei Geistliche in Hüsten gestoßen, die ihre exponierte Stellung in der Gemeinde zu unterschiedlichen Zeiten ausnutzten, um Judenhass zu predigen und gegen den demokratischen Staat zu wettern.

Vikar Lorenz Pieper war ein glühender Anhänger Hitlers und ein „Judenfresser“

Vikar Dr. Lorenz Pieper predigte in St. Petri in Hüsten von 1917 bis 1923.
Vikar Dr. Lorenz Pieper predigte in St. Petri in Hüsten von 1917 bis 1923. © Nachlass Abtei Königmünster/Repro P. Bürger | Nachlass Abtei Königmünster/Repro P. Bürger

Dr. Lorenz Pieper war von 1917 bis 1923 Vikar an St. Petri in Hüsten. Er gründete ziemlich genau vor 100 Jahren eine Ortsgruppe der NSDAP und galt schon als glühender Anhänger Adolf Hitlers, als dieser längst noch nicht reichsweit den Rückhalt genoss, der ihn später auf fatale Weise an die Macht brachte.

Weil die meisten Akten nach dem 2. Weltkrieg vernichtet wurden, waren viele der Hintergründe nur noch wenigen Zeitzeugen bekannt. Doch dem Sunderner Historiker Werner Neuhaus gelang es durch Zufall, Akten im Münsteraner Staatsarchiv zu entdecken, die früh belegen, wie Vikar Pieper handelte.

„Dort gibt es Meldungen des damaligen Amtmanns von Hüsten, der Pieper als ‚Judenhasser‘ und ‚Judenfresser‘ bezeichnet und ihn unter anderem beim Staatsschutz und beim Generalvikariat anzeigte. Selbst der Landrat und der Regierungspräsident wussten über die Anklagen Bescheid. Doch es passierte lange Zeit nichts“, erklärt Neuhaus.

Der Generalvikariat Paderborn erklärte den Täter bewusste zum Opfer

Vortrag zum Thema im Paul-Schneider-Haus

Die beiden Lokalhistoriker Reiner Ahlborn und Werner Neuhaus werden am Mittwoch, 9. November, um 19.30 Uhr ihre Erkenntnisse in einer Vortragsveranstaltung unter dem Titel „Wegbereiter des Nationalsozialismus in Hüsten“ präsentieren.

Die Veranstaltung der Evangelischen Kirchengemeinde Hüsten und des Heimatbunds Neheim-Hüsten findet im Paul-Schneider-Haus in der Friedrich-Naumann-Str. 6 statt und ist kostenfrei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Beim Betreten ist eine Maske zu tragen.

Dr. Lorenz Pieper setzte sich 1923 sogar nach München ab, um dort für die NSDAP Propagandaveranstaltungen zu organisieren und Hitler direkt zu unterstützen. „Selbst die christlichen Arbeiter und SPD-Mitglieder wetterten gegen die Worte und Taten des Vikars. Als sich dann noch die jüdische Gemeinde über die Hetze Piepers beim Generalvikariat beschwerte, gab es aus Paderborn nur die lapidare Antwort, dass Pieper sich lediglich gegen die Juden und ihre Ansichten gegenüber der Kirche verteidige. Hier wurde also der Täter bewusst zum Opfer erklärt“, sagt Neuhaus.

Als der katholische Pfarrer die Gemeinde verlassen hatte und 1923 quasi kaltgestellt war, machte sich dieser daran, selbst eine Art Brieftagebuch zu verfassen, was im Stadtarchiv von Münster landete. „Die Inhalte der Briefe sind schon harter Tobak. Der Geistliche ruft dort beispielsweise explizit zum Mord an den Juden auf!“, beschreibt der Historiker seine Erkenntnisse aus den gefundenen Akten.

Auch für den ev. Pfarrer Kehrer „war Hitler eine Art göttliche Vorsehung“

Pfarrer Johann Friedrich Kehrer war von 1929 bis 1942 in der Evangelischen Kirchengemeinde Hüsten tätig.
Pfarrer Johann Friedrich Kehrer war von 1929 bis 1942 in der Evangelischen Kirchengemeinde Hüsten tätig. © Privat | Privat

Dass dieser Rassenhass keineswegs nur im Umfeld der katholischen Kirche in Hüsten stattfand, hat wiederum Reiner Ahlborn herausgefunden.

Das Mitglied des Heimatbunds Neheim-Hüsten konzentrierte sich bei seiner Recherche auf die Zeit von 1929 bis 1941. Denn dort war Johann Friedrich Kehrer Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Hüsten.

„Kehrer bekannte sich recht früh zu den sogenannten ‚Deutschen Christen‘. Diese waren eine Untergruppierung der protestantischen Kirche mit eindeutigen Sympathien für den Antisemitismus. Dort wurde das Führerprinzip gepflegt, die Arisierung gefordert und der Wunsch nach einer deutschen Reichskirche – am besten im Zusammenschluss mit den Katholiken – geäußert“, beschreibt Ahlborn Kehrers Motivation.

Der Geistliche soll in der Gemeinde krude Theorien zum Germanentum und dem Glauben verbreitet haben. „Für Anhänger der ‚Deutschen Christen‘ war Adolf Hitler eine Art göttliche Vorsehung“, so Ahlborn.

Kehrer nimmt auch bewusst die Spaltung der Neheimer Gemeinde in Kauf

Pfarrer Kehrer versuchte aus Hüsten heraus, auch Einfluss auf die evangelischen Christen in Neheim zu erlangen. Ihm gelang es sogar, den Schlüssel für die Christuskirche zu erhalten. „Kehrer hat einen Dankgottesdienst zum Geburtstag Hitlers abgehalten und bewusst die Spaltung der Neheimer Gemeinde in Kauf genommen.“

Selbst als er 1941 nach Wetter an der Ruhr versetzt wurde, verwaltete er von dort aus noch bis 1943 die Hüstener Gemeinde. „Danach hat er sich freiwillig für den Krieg an der Ostfront gemeldet, obwohl er aufgrund seines Alters und einer Krankheit die Möglichkeit gehabt hätte, sich vom Wehrdienst freistellen zu lassen. Aus Briefen an seine Familie wissen wir, dass er die Lage in Russland damals schon als aussichtslos bezeichnete. Möglicherweise wollte er ganz bewusst dort sterben“, vermutet Reiner Ahlborn. Gestorben ist Johann Friedrich Kehrer dann aber in keinem Schützengraben, sondern in Kriegsgefangenschaft.

Beide Priester waren widersprüchliche Charaktere

Beide Akteure, das haben Neuhaus und Ahlborn durch ihre Recherchen herausgefunden, seien bisweilen auch sehr widersprüchliche Charaktere gewesen. „Wir wissen von Briefen, dass er Angehörige von behinderten Menschen vor den Euthanasieaktionen der Nazis in Warstein gewarnt hat, denn dort war er eine Zeit lang Anstaltsgeistlicher“, so Ahlborn.

Pieper wiederum habe abseits seiner antisemitischen Hetzereien ein enormes soziales Engagement gezeigt. „Während der Wirtschaftskrise in Deutschland hat er Lebensmittel und Textilien besorgt und an Bedürftige verteilt“, erklärt Werner Neuhaus, der gemeinsam mit Peter Bürger ein Buch über Vikar Pieper und dessen politisches Umfeld veröffentlicht hat.

Die zu den Nazis übergelaufene Hüstener Bevölkerung ächtete den aufrechten Amtmann

Wie sensibel diese Themen für Hüsten auch heutzutage sind, wird an einer kleinen Geschichte deutlich. Der Amtmann, der Pieper angeklagt hatte, wurde später von der Hüstener Bevölkerung, die recht schnell mehrheitlich zu den Nationalsozialisten übergelaufen war, geächtet.

„Das führte sogar dazu, dass er mit seiner Familie flüchten und sein Amt freiwillig und gegen eine Strafzahlung aufgeben musste. Der Hüstener Gemeinderat lehnt aber die offizielle Rehabilitierung dieses ehrenhaften Mannes, der später in Süddeutschland Landrat wurde, bis heute ab“, betont Ahlborn.

Sowohl Ahlborn als auch Neuhaus sehen in dem 9. November die Symbolkraft des Tages. „Wir möchten das Erinnern an die Opfer nicht vergessen, zugleich aber auch mal die Perspektive wechseln und die Täter in den Mittelpunkt stellen. Denn nur, wenn man sich mit den Tätern befasst, kann man aus der Geschichte lernen“, so Ahlborn. Und Neuhaus ergänzt: „Nach dem 2. Weltkrieg wurde in den Zeiten des Wiederaufbaus viel bewusst verschwiegen und verdrängt. Es ist Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt.“