Voßwinkel/Budapest. In der WP-Artikel-Serie „Wende-Zeit im Sauerland“ wird an Csilla von Boeselager (†) und ihren Einsatz in Ungarn erinnert.

In diesen Tagen, in denen oft an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren und die vorausgegangene Massen-Flucht von DDR-Bürgern erinnert wird, gerät ein anderes historisches Datum häufig in Vergessenheit: Am 11. September 1989 öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich und für Zehntausende von ostdeutschen Flüchtlingen war der Weg frei in die Bundesrepublik Deutschland. Bis dies so weit war, mussten allerdings Tausende von DDR-Bürgern, die nach Budapest geflohen waren, versorgt werden.

Das Gelände der deutschen Botschaft war hoffnungslos überfüllt, auf den Straßen campierten unzählige Ostdeutsche nahe ihrer abgestellten Trabis. Menschenmassen mussten mit Lebensmitteln und sanitären Einrichtungen versorgt werden und benötigten ein Dach über dem Kopf. In dieser Stunde ergriff die Voßwinkelerin Csilla Freifrau von Boeselager die Initiative. Die gebürtige Ungarin, die bereits 1987 den „Ungarischen Malteser Caritas Dienst“ aufgebaut hatte, organisierte völlig unbürokratisch Malteser-Zeltlager, die die DDR-Flüchtlinge aufnahmen. Diverse Medien gaben ihr später den Beinamen „Der Engel von Budapest“.

Dr. Wolfhard von Boeselager, der mit Csilla von Boeselager (†) verheiratet war, ist heute ein Zeitzeuge der Ereignisse in Budapest.
Dr. Wolfhard von Boeselager, der mit Csilla von Boeselager (†) verheiratet war, ist heute ein Zeitzeuge der Ereignisse in Budapest. © Privat | Privat

Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert sich Dr. Wolfhard von Boeselager an die Geschehnisse in Budapest und an den Hilfseinsatz seiner Ehefrau, die 1994 im Alter von nur 52 Jahren einem Krebsleiden erlag. „Die Situation erforderte damals schnelles Handeln, denn seit Frühsommer 1989 kamen immer mehr DDR-Bürger nach Ungarn“, berichtet der heute 83-jährige Zeitzeuge. Die deutsche Botschaft in Budapest, in der mittlerweile mehr als 120 DDR-Bürger Zuflucht gesucht hatten, war nicht mehr arbeitsfähig. „Meine Frau hatte in Budapest gute Kontakte zur deutschen Botschaft und bot Botschaftsmitarbeitern die Hilfe der Malteser an, was gern angenommen wurde. Das erste Zeltlager im Kirchgarten in Budapest-Zugliget hat meine Frau dann recht energisch in Zusammenarbeit mit dem Pfarrer Imre Kozma und den Maltesern organisiert.“ Wegen des starken Zustroms an geflohenen DDR-Bürgern wurden schnell weitere Malteser-Flüchtlingslager an anderen Standorten nötig.

Wochenlange ungewisse Zukunft

Für die Flüchtlinge war es wochenlang ungewiss, ob Ungarn sie an der österreichischen Grenze ausreisen lässt. Viele lebten im Lager in Angst und Sorge, ob Ungarn sie vielleicht doch als Republikflüchtige an die DDR ausliefert. Denn es galt immer noch ein Auslieferungsabkommen unter allen Ostblockstaaten, in Ungarn wurde es aber von der UN-Flüchtlingskonvention rechtlich überwölbt, nachdem Ungarn dieser Konvention im März 1989 beitrat.

Stiftung Osteuropahilfe setzt sich für die Ärmsten ein

Csilla von Boeselager gründete 1991 die Stiftung Osteuropahilfe. Nach ihrem Tod (1994) wurde die Stiftung in „Csilla-von-Boeselager-Stiftung Osteuropahilfe e. V.“ umbenannt.

Die erwachsenen Kinder (Ziehsohn Raphael von Hoensbroech als Vorsitzender, Ildikó von Ketteler als stellvertretende Vorsitzende und Ilona von Boeselager als Vorstandsmitglied für Öffentlichkeitsarbeit) sowie weitere Familienmitglieder und Freunde setzen die Nothilfe in Osteuropa fort. Weitere Informationen im Internet: www.boeselager-osteuropahilfe.de

Allein im Jahr 2018 belief sich die Hilfe auf 92.900 Euro an Geldspenden. Hinzukommen Sachspenden im Wert von 1.000.000 Euro, womit Hilfsbedürftige in Serbien, Ungarn, Polen, Rumänien und in der Ukraine unterstützt werden. „Wir konzentrieren uns auf die Ärmsten“, sagt Ilona von Boeselager. Als Beispiel nennt sie die Armenküche im ukrainischen Saporischja, wo an sechs Tagen in der Woche rund 200 Liter Suppe mit Brot an Obdachlose und Straßenkinder ausgegeben werden.

Csilla von Boeselager wurde 1989 von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. 1991 erhielt sie das Verdienstkreuz der Republik Ungarn. Weitere Ehrungen von Verbänden und Institutionen kommen hinzu.

Dr. Wolfhard von Boeselager besuchte seine Frau zweimal in Budapester Flüchtlingslagern. Die Angst und das Misstrauen von Flüchtlingen gegenüber ihnen unbekannten Menschen spürte er dort. Das Misstrauen hatte klare Gründe: „Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit waren rund ums Lager postiert. Auf Dächern wurden Fotos von Flüchtlingen im Lager gemacht, Stasi-Leute sprachen vor dem Lager DDR-Bürger an, ob sie bei Zusicherung von Straffreiheit in die DDR zurückkehren wollen“, erinnert sich Dr. Boeselager. Darüber hinaus habe es aber auch in der gesamten ungarischen Hauptstadt eine angespannte Lage gegeben. „Ich habe sowjetische Panzer auf den Straßen fahren sehen“, berichtet Dr. Boeselager. Denn ob die Sowjetunion nur Beobachter der krisenhaften Situation bleibe oder eingreife, sei nicht klar gewesen. „Ich hatte Angst um meine Frau“, beschreibt Boeselager seine damalige Gefühlslage. Umgekehrt habe seine Frau keine Angst gehabt. In dieser Situation sei seine Frau von Patriotismus durchdrungen gewesen.

Christin und Patriotin

Es ging aber weitem nicht nur um Patriotismus. Zu den Motiven von Csilla von Boeselagers mutigem und tatkräftigem Einsatz sagt Dr. Wolfhard von Boeselager: „Hier kommt einiges zusammen. Als Katholikin wollte sie hilfsbedürftige Menschen engagiert unterstützen - und das völlig unabhängig von deren Konfession. Deshalb hat sie später, 1991, auch die Stiftung ,Osteuropahilfe e. V.‘ gegründet.“

Mit Blick auf die geflohenen DDR-Bürger habe Csilla von Boeselager auch eigene Fluchterfahrungen vor Augen gehabt, weil sie als kleines Kind mit ihrer Familie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) vor der Roten Armee aus Budapest über Bayern nach Venezuela geflohen sei.

Im Kirchgarten in Budapest-Zugliget befand sich das erste Malteser-Zeltlager, in dem im August/September 1989 viele geflohene DDR-Bürger Zuflucht fanden.
Im Kirchgarten in Budapest-Zugliget befand sich das erste Malteser-Zeltlager, in dem im August/September 1989 viele geflohene DDR-Bürger Zuflucht fanden. © Privat | Privat

Im September 1989 lebten mittlerweile etwa 40.000 DDR-Flüchtlinge in Ungarn. Nach einer Mitteilung von Ungarns Ministerpräsident Miklós Németh konnte Csilla von Boeselager endlich am 10. September 1989 den geflohenen DDR-Bürgern die sehnsüchtig erwartete Nachricht überbringen: „Sie können das Land verlassen!“ Dies passierte noch 20 Tage vor der berühmten Ausreise-Ankündigung, die Bundesaußenminister Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag den DDR-Bürgern überbrachte. Csilla von Boeselagers Ausreise-Ankündigung vom 10. September 1989 und die davor geleistete praktische Flüchtlingshilfe wird Tausenden geflohener DDR-Bürger unvergessen bleiben.

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