Neuastenberg.

Ich bin beeindruckt. „Kann doch soooo schwer nicht sein, bei Schuhgröße 45 ein wenig mit den Füßen zu treten, mit den Fäusten zu boxen und einen Kampfschrei auf den Lippen im weißen Polyester-Mäntelchen durch die Luft zu fliegen?“ Glaubte ich. Denkste!

Vom Tennis zum Kampfsport

In Socken, blauer Turnbuxe und weißem T-Shirt falle ich in der Sporthalle der Jugendherberge Neuastenberg ein wenig auf. Alle anderen tragen Mantel und Gürtel. Ich hätte doch vielleicht die rote Kordel aus meinem Bademantel mitnehmen sollen. „Hi! Ich bin der Marcus, die Strümpfe ziehst du am besten aus, wir trainieren barfuß. Und wenn du willst, kannst Du gleich beim Aufwärmen mitmachen.“ Kein Problem, dafür bin ich ja hier.

Der freundliche Trainer heißt Marcus Traut, ist 40 Jahre alt, kommt aus Bad Berleburg und unterrichtet dort und im Raum Winterberg Taekwondo. Später wird er mir erzählen, dass sein Vater ihm in jungen Jahren jeden Kampfsport untersagte. Dass er stattdessen Tennis spielen musste. Dass er irgendwann frustriert den Schläger nach seinem Coach warf und dass er auf dem Nach-Hause-Weg einen Freund traf, der ihm sagte: „Dann mach doch Taekwondo“. Seit 25 Jahren ist der Mann, der für einen privaten Sicherheitsdienst bei der Bundeswehr in Frankenberg arbeitet, dem Kampfsport treu geblieben…

Als Novize und blutiger Laie müsste ich eigentlich in der letzten Reihe Aufstellung nehmen. Doch der Marcus hat mich in der Mitte postiert, wo ich einem erfahrenen Vordermann auf Füße und Arme schauen soll. Der Ausruf „Kjonje!“ weckt mich aus meinen Tagträumen. Wie bitte? Das ist Koreanisch und heißt soviel wie „Verbeugen!“ Brav kommen die Sportler dieser Aufforderung nach. Während ich dazu die Hände noch in Messdiener-Gebetshaltung sortiere, ruft auch schon jemand „Tschumbi!“ in den Raum. Äh, was war das? Aber ich bin doch noch gar nicht „Fertig!“ Und jetzt auch noch „Tschiak!“ – das Startzeichen. Wir hüpfen auf der Stelle.

Ohne Gürtel

Eine Reihe vor mir erkenne ich den Ortsvorsteher aus meinem Nachbardorf. Wer hätte das gedacht? Der macht Taekwondo hier oben in Neuastenberg? Der sitzt doch auch im Stadtrat. Braucht der da Kampfkunst? Egal. Im Gegensatz zum Chef der Truppe trägt er nur einen gelben Gürtel mit Streifen dran. Marcus klärt mich später auf: Zehn sogenannte „Kups“ gibt es. Der zehnte Kup ist ein weißer Anfängergürtel, beim neunten kommen schon ein paar gelbe Marker hinzu. Nummer acht ist ganz gelb und so weiter. Marcus ist Schwarzgurtträger mit dem vierten Rang, dem sogenannten Dan. Das geht bis Nummer 6. „Aber dafür muss man sehr anspruchsvolle Prüfungen absolvieren und sich um den Sport verdient gemacht haben“, sagt er.

So wie ich? Wir hüpfen immer noch. Füße nach vorn, Füße nach hinten, Füße zur Seite. Arme kreisen, Arme aufklappen, Beine über Kreuz, mit den Händen nach vorne boxen. „Thomas, zähl mal durch bis zehn!“ Er meint mich. Auf Koreanisch wie meine Mitstreiter kann ich das natürlich nicht. Ab „Fünf!“ hauche ich nur noch atemlos mit dünner Stimme, während alle bei jedem Zähler beide Knie im Sprung zeitgleich fast bis zum Ohrläppchen ziehen. Meine Hopser erinnern eher ans Sackhüpfen. Meine Fußsohlen werden langsam heiß. Unter dem linken großen Zeh hat sich ein Hautlappen gelöst. „Weiche Vögel, weiche Äse!“, pflegte meine Oma zu sagen. Sie hatte Recht…

„Gut 75 Prozent ist Beintechnik. Es kommt auf Schnelligkeit und Dynamik an. Im Gegensatz zu Judo gibt es keine Griffe oder Hebel. Faust und Arme dienen mehr zum Täuschen und Verteidigen. Es ist ein eher körperloser Sport und kein Bodenkampf. Ein K.o. ist eher selten“, hat Marcus Traut mir eingangs erklärt. Der Gegner werde mit raschen Schlägen oder Tritten berührt. Jemanden unter der Gürtellinie zu erwischen, sei absolut tabu. Bei Wettkämpfen tragen die Athleten Kopfschutz und Sensoren. Wann immer einer der beiden Kontrahenten einen Treffer landet, wird er registriert. Kopf zählt mehr als Bauch. Aber bis dorthin muss man erstmal kommen…

Rückzieher

Wir sollen die Füße seitlich eindrehen und – auf einem Bein locker hüpfend – mit dem zweiten einen Tritt in die Luft machen. Ich taumele. Die Dehnübungen schaffe ich noch. Beide Handflächen lege ich locker auf den Boden. Es zieht im Po, es zieht im Knie, es zieht eigentlich überall. Als wir kleine Zweiergruppen bilden sollen und ich einem kleinen asiatisch-anmutenden Jungen mit einem Leuchten in den Augen gegenüberstehe, gönne ich mir lieber eine Auszeit. Sicher ist sicher. Ich bin ja schließlich zum Arbeiten hier.

Aggression und Frust seien den Sportlern fremd, versichert Marcus mit einem Grinsen. Er sei zum Beispiel der freundlichste Trainer in ganz NRW. Höflichkeit, Durchhaltevermögen, Unterordnung und Disziplin nennt er dagegen als drei wesentliche Charakterzüge des Taekwondo. Etwa mit sechs Jahren könne man in den Sport einsteigen. „Er stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder, es macht ihnen Spaß, und es trägt zu einem ganz besonderen Körperbewusstsein bei“, sagt Traut. Daher fährt er auch regelmäßig durch die Kindergärten, um vor dem Wechsel zur Grundschule ein wenig Werbung für diesen Sport zu machen.

Marcus ist oft als Dozent unterwegs und kennt auch die Oeventroperin Helena Fromm, die Freitag in London um Medaillen kämpft. „Klar, schaue ich im Fernsehen zu, wenn sie an der Reihe ist. Und ich drücke ihr beide Daumen, dass sie Gold holt.“ Ob es ihn selbst gereizt hätte, bei Olympia mitzumachen: „Nein, ich bin kein Kämpfertyp.“

Das sieht in der Halle inzwischen ganz anders aus. Die Sportler stehen sich gegenüber und lassen Arme und Beine fliegen. Immer wieder stoßen sie dabei schwer zu verstehende Kommandos aus. Das soll beim Aufbau von Körperspannung helfen. „Komm, jetzt machen wir mal einen Bruchtest“, beendet Marcus unser Gespräch. Im Nu werden kleine Fichtenholzbretter und ein roter Poroton-Ziegelstein herbeigeholt. Mit einem einzigen Tritt wird aus dem Brett Anmachholz und mein Nachbarortsvorsteher hämmert mal eben mit einem Schlag den Stein entzwei. Der hat nicht mal eine Macke an der Hand und ich trage jetzt zwei Blasenpflaster unter jedem Onkel.