Brilon/Winterberg. Klimawandel als Chance? Für Sauerländer Verhältnisse sind es exotische Tiere, die plötzlich auf Borkenkäfer-Flächen neue Lebensräume finden.

Trockenheit, Borkenkäfer, Baumsterben. Der Wald macht seit einigen Jahren keine guten Schlagzeilen. Oder doch? In jeder Krise steckt auch eine Chance. Und die krabbelt oder hat Flügel. Der Klimawandel und veränderte Landschaftsbilder wie zum Beispiel durch Borkenkäfer verursachte Kalamitäts- oder Schadflächen entwickeln sich mehr und mehr zu Lebensräumen für Pflanzen und Tiere, die hier sonst gar nicht oder nur kaum vertreten waren. Kommen jetzt die Exoten ins Sauerland?

Forscher/innen der Universität Osnabrück berichten aktuell von erstaunlichen Vogelsichtungen in den Sauerländer Wäldern. Dazu zählen zum Beispiel der Wiedehopf mit seiner eigenwilligen Frisur oder der Steinschmätzer. Bitte nicht mit der Loriot’schen und nicht ganz ernst gemeinten „Steinlaus“ zu verwechseln. Beide Vogelarten sind Zugvögel, die auch im Sommer bei uns seit Jahrzehnten kaum Halt gemacht haben. Jetzt wurden sie hier gesichtet, weil sich Klima und Nahrungsangebot für sie offenbar verbessert haben.

Besondere Überraschung und Freude löst der Fund eines balzenden Steinschmätzer-Paares und eines weiteren Männchens der landesweit vom Aussterben bedrohten Zugvogelart aus. Der kleine, aber weit ziehende Vogel kommt in ganz NRW mit nur 10 bis 20 Brutpaaren vor.
Besondere Überraschung und Freude löst der Fund eines balzenden Steinschmätzer-Paares und eines weiteren Männchens der landesweit vom Aussterben bedrohten Zugvogelart aus. Der kleine, aber weit ziehende Vogel kommt in ganz NRW mit nur 10 bis 20 Brutpaaren vor. © WP | Hannah Kalthoff/Uni Osnabrück

Einfluss klimawandelbedingter Störereignisse

Im Rahmen einer Forschungsarbeit untersuchen die Fachleute den „Einfluss klimawandelbedingter Störereignisse auf die Biodiversität mitteleuropäischer Wirtschaftswälder“. Heimische Försterinnen und Förster unterstützen dieses Projekt und sind sehr gespannt auf die Ergebnisse im kommenden Winter. Auch der VNV-HSK hilft den Forschern bei der Suche der Brutplätze des sehr heimlichen Raubwürgers tatkräftig. „Bisher haben wir ein unglaublich großes Interesse und viel Begeisterung von allen Menschen im Sauerland erlebt. Man kann gut verstehen, dass die Waldschäden die Sauerländer umtreiben. Ich hoffe daher, dass wir mit unserer Arbeit zeigen können, dass die Probleme, so drastisch sie auch sein mögen, für den Artenschutz und die Biodiversität wenigstens durchaus einige positive Seiten haben“, sagt Hannah Kalthoff von der Universität Osnabrück, Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie.

Der Wiedehopf fällt mit seinem auffälligen Federkleid und dem besonders langen Schnabel sofort auf, da er in Deutschland nur selten vorkommt. Die inzwischen reich strukturierten Borkenkäfer-Schadflächen können dem wärmeliebenden Höhlenbrüter ein reichhaltiges Futterangebot bieten. Im angrenzenden Wald oder direkt auf der Borkenkäfer-Schadfläche könnte er sogar geeignete Brutplätze finden.
Der Wiedehopf fällt mit seinem auffälligen Federkleid und dem besonders langen Schnabel sofort auf, da er in Deutschland nur selten vorkommt. Die inzwischen reich strukturierten Borkenkäfer-Schadflächen können dem wärmeliebenden Höhlenbrüter ein reichhaltiges Futterangebot bieten. Im angrenzenden Wald oder direkt auf der Borkenkäfer-Schadfläche könnte er sogar geeignete Brutplätze finden. © WP | Hannah Kalthoff/Uni Osnabrück

Die Erfassung der Brutvögel läuft noch bis Mitte Juni, daher sind die bisherigen Ergebnisse noch nicht abgeschlossen. Wiedehopf und Steinschmätzer scheinen bisher nur auf dem Durchzug gewesen zu sein und bislang nicht für die Brut zu bleiben. Aber auch Rastgebiete mit einem reichen Nahrungsangebot sind aus ökologischer Sicht wichtige und neue Lebensräume für die Tiere.

Arten profitieren nun von den strukturreichen, offenen Schadflächen

Die Brachflächen scheinen außerdem auch für heimische, gefährdete Arten ein interessantes Terrain zu sein: „Zu nennen sind da der Raubwürger, die Heidelerche, der Feldschwirl und der Baumpieper. Das sind Arten, die noch vor einigen Jahrzehnten typische Vertreter in der Agrarlandschaft waren. Durch Intensivierung der Landwirtschaf oder durch Flurbereinigungen haben sie allerdings ihren Lebensraum verloren und sind vom Aussterben bedroht. Da sie in der Regel offenen Boden zur Nahrungssuche benötigen, können sie oft auch in unseren alten Wäldern keinen Lebensraum finden. Diese Arten profitieren nun von den strukturreichen, offenen Schadflächen, die der Borkenkäfer hinterlässt“, so Hannah Kalthoff.

Mit dem deutschlandweit stark gefährdeten, optisch eher unauffälligen Feldschwirl entdeckten die Forscherinnen und Forscher eine weitere Besonderheit unter den Zugvögeln. Der kleine Vogel fällt hauptsächlich durch seinen lauten heuschreckenartigen Gesang auf. Jedenfalls scheint er die dichte, buschige Vegetation der strukturreichen Schadflächen zu mögen. 
Mit dem deutschlandweit stark gefährdeten, optisch eher unauffälligen Feldschwirl entdeckten die Forscherinnen und Forscher eine weitere Besonderheit unter den Zugvögeln. Der kleine Vogel fällt hauptsächlich durch seinen lauten heuschreckenartigen Gesang auf. Jedenfalls scheint er die dichte, buschige Vegetation der strukturreichen Schadflächen zu mögen.  © WP | Hannah Kalthoff/Uni Osnabrück

Aber auch andere Tiere wissen den neuen Lebensraum zu schätzen: „Wir gehen davon aus, dass die Insekten auf die drastischen Veränderungen reagieren werden. Besonders solche Arten, die sonnige Standorte, Totholz und offenen Boden benötigen, werden wahrscheinlich auf den Borkenkäfer-Kalamitätsflächen häufiger werden. Ein Beispiel hierfür wäre der hübsche Feld-Sandlaufkäfer, den wir bereits einige Male auf Kahlschlägen gesehen haben. Andere Arten, die das kühlere, feuchtere Waldklima bevorzugen, werden sich wahrscheinlich eher in die verbliebenen Waldflächen zurückziehen“, erklärt die Fachfrau. Um diese Veränderungen nachzuweisen, untersuchen die Forscher in diesem Sommer ebenfalls die Artenvielfalt der Käfer und Spinnen auf denselben Flächen, auf denen auch die Brutvögel erfasst werden.

Dürre und Käfer haben dem Wald zugesetzt.
Dürre und Käfer haben dem Wald zugesetzt. © WP | WP

Zeitgleich werden auch Waldgebiete untersucht, die 2007 durch Kyrill gefällt und danach wieder aufgeforstet wurden. Diese Flächen sind jetzt, gut 15 Jahre nach dem Sturm, wieder dicht bewaldet. Hannah Kalthoff: „So können wir feststellen, welche Arten von diesen seltenen jungen Waldstadien profitieren. Hierbei sind besonders die Weidenmeise und der Fitis zu nennen, denen die jungen dichten Kyrill Bestände sehr gut zu gefallen scheinen. Beide Arten stehen auf der roten Liste der gefährdeten Brutvögel NRW und weisen einen negativen Bestandstrend auf, so dass die Kyrill Gebiete wertvolle Brutlebensräume für beide Arten darstellen.“

Hannah Kalthoff bei ihren Forschungsarbeiten im Hochsauerland.
Hannah Kalthoff bei ihren Forschungsarbeiten im Hochsauerland. © WP | Privat

Naturentwicklung ist ein ständiger Prozess

Aber nicht nur Neuzugänge fühlen sich auf den Schadflächen wohl: Schwarzspechte nutzen das viele Totholz zur Nahrungssuche, Grauspechte - in NRW stark gefährdet - freuen sich bei der Nahrungssuche über die vielen Ameisen am offenen Boden. Und wenn altes Totholz mit Höhlen bei den Forstarbeiten stehen gelassen wurde, brüten auch Sperlingskäuze und einige Wendehälse (ebenfalls in NRW vom Aussterben bedroht) auf den Borkenkäfer-Schadflächen. Selbst typische Nadelwaldarten wie Goldhähnchen, Tannenmeise und Haubenmeise sind dank der vom Borkenkäfer verschonten jungen Fichten auf den Schadflächen zu finden.

Die Naturentwicklung ist ein ständiger Prozess. Daher wird sich die Artenzusammensetzung mit der Wiederbewaldung nach und nach auch wieder verändern und andere Arten wie Buchfinken, Rotkehlchen und Amseln werden wieder häufiger zu sehen sein. Kalthoff: „Aber besonders für die vielen stark gefährdeten Arten, die es gerne etwas offener haben, bieten die Flächen zumindest in der Zwischenzeit einen wertvollen Lebensraum und der hier erbrütete Nachwuchs hilft hoffentlich zusammen mit wirksamen Artenschutzmaßnahmen die abnehmenden Bestandszahlen zu stoppen.“

Fünf Tag- und zwei Nachtbegehungen

Wie gehen die Forscher vor? Auf jeder der 50 Probeflächen werden seit Mitte März und bis Mitte Juni fünf Tag- und zwei Nachtbegehungen durchgeführt. Dabei wird jeder auf der Fläche anwesende Vogel notiert. Es wird darauf geachtet, ob der Vogel zum Beispiel zur Revierverteidigung singt, ein Nest baut oder Jungvögel füttert. Am Ende der Erfassung können so Brutreviere für alle anwesenden Vogelarten bestimmt werden. Hannah Kalthoff: „Diese Kartierungen machen ich und mein Kollege Jonas Brüggeshemke. Interessierte Laien können uns aber sehr gut unterstützen, indem sie Beobachtungen zum Beispiel über die App „Naturalist“ bzw. über die Internetseite „Ornitho.de“ melden.“ Die Daten werden von dem Dachverband deutscher Avifaunisten (DDA) gesammelt und können von jedem eingesehen werden. „Wir nutzen dieses Portal ebenfalls, um besondere Beobachtungen zu melden und können so gleichzeitig durch die Mithilfe anderer Beobachter abfragen, was zum Beispiel in den Waldgebieten rund um Brilon passiert.“

Werner Schubert von der Biologischen Station des HSK in Brilon kennt das Projekt, zumal es mit seiner Einrichtung abgestimmt ist. „Frau Kalthoff schreibt ihre Doktorarbeit über das interessante Thema. Dass auf den Kalamitätsflächen zum Beispiel verstärkt Neuntöter auftreten, ist bekannt und auch, dass die Flächen bis zu einer Baumhöhe von vier Metern sehr insektenreich sind. Aber die Sichtung des Wendehalses ist in der Tat neu.“ Auch er hofft, dass zum Beispiel der Neuntöter, der sehr selten ist und im HSK einen der wenigen Verbreitungsschwerpunkte deutschlandweit hat, auf Dauer seinen Lebensraum im Sauerland findet.

Na bitte, Wald kann auch für positive Schlagzeilen gut sein!