Winterberg. Sofiia (16) ist mit schrecklichen Eindrücken aus Kiew nach Winterberg geflüchtet. Jetzt malt die talentierte Schülerin wieder: Beeindruckend!
Manche Geschichten haben einen kuriosen Start - so wie diese. Auf seiner facebook-Seite postet der Gitarrenbauer Steven Den Toom aus Altastenberg das Foto eines Gemäldes, das jeden Betrachter sofort anspricht. Man kann nicht einfach weiter scrollen, man bleibt hängen. Irgendwie kommt es einem bekannt vor und doch sieht es anders aus. Es zeigt das berühmte Meisterwerk „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich. Oder vielleicht doch nicht? Stützt sich der feine Herr im Gehrock im Original nicht auf einem Spazierstock ab? Und ist das hier nicht eine Gitarre? Beides stimmt. Dieses und andere fantastische Motive stammen aus den Händen und der Feder einer 16-Jährigen. Sofiia Ruzhynska kommt aus der Ukraine, einem Land, in dem ein Krieg tobt. Wenn sie sich in die Malerei fallen lässt, erlebt sie zumindest in diesen Momenten ein Stückchen inneren Friedens. Und es war so einfach, ihr dabei ein wenig zu helfen.
„Privit!“ Das heißt „Hallo!“ auf Ukrainisch. Und das ist das einzige Wort, das Steven Den Toom kennt, als er sich an jenem Nachmittag in der Flüchtlingshilfe im Raum Winterberg engagiert. Er hat eine seiner Gitarren dabei und spielt. Die junge Frau trägt auch ein Saiteninstrument unter dem Arm, das sie kunstvoll bemalt hat. Beide kommen englisch-deutsch-ukrainisch ins Gespräch und der 26-Jährige spürt schnell, dass sie auf derselben künstlerischen Wellen-Länge unterwegs sind. Sofiia hat auf der Flucht von Kiew nach Deutschland nicht viel mitnehmen können - viele schreckliche Bilder hatte sie im Gepäck, aber keine Pinsel oder Farben. Steven kauft ihr für kleines Geld ein paar Zeichen-Utensilien. Er spürt, dass ihr das Malen guttut und fragt, ob sie ihm nicht das legendäre Bild von Caspar David Friedrich malen kann. Sie kann es zunächst nicht.
Mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ist Sofiia im Mai 2022 aus Kiew geflüchtet; inzwischen ist auch die Oma hier. „Wir haben keine große Familie. Wir konnten nirgendwohin ausweichen. Es war zu gefährlich. Uns blieb nur die Flucht“, sagt die 16-Jährige mit leiser Stimme. Ihr Vater ist nach wie vor in der Ukraine. Wehrpflichtige Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht ausreisen. Er ist noch nicht an der Front. Er bleibt aber dort. Dort - das ist ein Land, das großen Wert auf die musische Prägung und Förderung junger Menschen legt. „Wir haben ganz normalen Schul-Unterricht, der mitunter bis zum späten Nachmittag dauert. Dann gibt es eine spezielle Förderung: Sport, Tanz, Musik, Kunst.
Sofiia hat vieles ausprobiert, aber die Malerei ist ihr Steckenpferd. Daher besucht sie bis Kriegsausbruch jeden Tag der Woche abends noch gut zweieinhalb Stunden lang eine „Kunst-Schule“. Der Tag einer Schülerin endet somit erst gegen 21 Uhr oder noch später. „Danach kann man in Kiew immer noch einkaufen. Dass die Geschäfte hier in Deutschland so früh schließen, das war eine der größten Umstellungen für mich.“
Umgerechnet 50 Euro im Monat kostet das Schulgeld für die „Kunst-Schule“. Im ersten Moment klingt das nicht viel, aber der durchschnittliche Verdienst in ihrer Heimat liegt bei 400 Euro. Ihr Vater ist Hausmeister, die Mutter Polizistin, seit der Geburt der Kinder aber Hausfrau. Die künstlerische Förderung der Tochter ist den beiden wichtig. Sie wissen um ihr Talent. Das erste Bild malt Sofiia im Alter von zwei Jahren. Darauf zu sehen: Sie selbst und ein Freund. Ihr Vater bewahrt es heute noch auf. Hoffentlich ist es unversehrt. Hoffentlich ist er unversehrt.
Mit dieser bangen Ahnung möchte sie ihren Papa nach gut einem Jahr der Trennung in Kiew besuchen. Klar, sie stehen in Kontakt. Jeden Tag. Aber das persönliche In-den-Arm-Nehmen haben WhatsApp und Co. noch nicht erfunden. In die Vorbereitung dieser Reise fällt der freundschaftliche „Mal-Auftrag“ für Steven. Immer wieder versucht sie den „Wanderer über dem Nebelmeer“ als Aquarell aufs Papier zu bringen. Aber es geht nicht. Dem Bild fehlt jede Leichtigkeit, jeder perspektivische, hoffnungsvolle Blick in die Weite. Streng genommen spiegelt das Bild die aufgewühlte Seele einer 16-Jährigen wider, die ihren Vater, ihr Umfeld, ihre Freunde, ihre Malerei zwischen Bomben, Tod und Zerstörung zurücklassen musste. 34 Stunden ist sie im Sommer mit dem Bus nach Kiew unterwegs; 21 Tage darf sie bleiben. Ihrem Vater geht es den Umstände entsprechend. Sie tankt auf: Hoffnung, Zuversicht, Vertrauen, Perspektive, Kraft. Steven Den Toom: „Ich bin froh, dass ich beide Bilder haben durfte - die erste Version vor ihrer Reise und das Bild danach. Sie hat selbst die kleinen Rosetten auf der Gitarre haargenau wiedergegeben. Beide hängen in meinem Wohnzimmer und jeden Morgen denke ich darüber nach, wie sie entstanden sind und dass Frieden nicht selbstverständlich ist.“
Sofiias Traum
Sofiia malt wieder. Gern auch im Auftrag. Meist in Aquarell. Das heißt aber auch: Sofiia findet wieder häufiger ihren Frieden. Hier in Deutschland besucht sie ein Berufskolleg, arbeitet an ihren Sprachfähigkeiten und macht parallel dazu online ihre Schule in der Ukraine. Die fremde Sprache ist nicht einfach, deutsche Freunde hat sie nicht. In der Schule ist sie mit anderen Flüchtlingen zusammen. Zum Teil aus anderen Ländern. In der Ukraine hätte sie im nächsten Jahr nach erfolgreichem Abschluss und dem Ende ihrer Kunst-Akademie ein Studium aufnehmen können. Die Regeln dort sind anders. Hier wird es schwieriger sein, eine Hochschullaufbahn einzuschlagen. Sofiia träumt gar nicht mal nur von der Malerei. Sie sieht sich mehr im Bereich Architektur und Gestaltung. Aber auch das ist ohne Hochschulreife schwer möglich. Sofiia ist Realistin - so realistisch wie ihre Bilder: „Der Krieg wird so schnell nicht zu Ende sein. Leider. Aber ich habe ein Ziel: Mein Painting, meine Malerei, meine Architektur.“
„Der Wanderer über dem Nebelmeer“ ist ein unfassbar vielschichtiges Bild. Steven den Toom: „Es spiegelt all das wieder, was auch ich erlebt habe. Der einsame Mann mit der Gitarre - das bin ich in meinem eher ungewöhnlichen Beruf ja auch.“ Für Sofiia hat er einen guten Ratschlag: „Du brauchst immer ein Ziel. Denn hast Du ein Ziel, dann wirst Du auch einen Weg finden.“ Die 16-Jährige schaut ihn mit großen Augen fragend an. Und Steven sagt es nochmal auf Englisch: „You always need a goal. If you have a goal, you will find the way.“ Sofiia lächelt.
Weitere Infos über die Arbeit von Sofiia auf Instagram unter usually.they