Brilon/Hochsauerland. Es geht um Grenzüberschreitungen, um Tabus. Sexualisierte Gewalt nimmt zu. Welche Hilfen die Beratungsstelle der Caritas in Brilon anbietet.
„Die Polizei im Hochsauerlandkreis verzeichnet mehr Sexualdelikte“, lautete eine Schlagzeile in der WP vom August. Insbesondere Kinder sind die Opfer. 383 Sexualstraftaten sind im Hochsauerland ein neuer Rekord - zum Vergleich: Ein Jahr zuvor waren es 226. Die Polizei führt 29 Vergewaltigungen an, im Jahr 2020 waren es 21. Vier sexuelle Nötigungen sowie 65 Mal sexueller Missbrauch von Kindern sind in der Statistik vermerkt. 2020 waren es noch 42 Fälle. 128 Mal kam es laut der Statistik zur Verbreitung von Kinderpornografie. Auch hier zeigt sich eine deutliche Steigerung von plus 69. Aber was sagen schon Zahlen? Die menschlichen Schicksale dahinter sind es, mit denen sich die Beratungsstelle der Caritas Meschede in Brilon beschäftigt. Seit Anfang des Jahres hat die Caritas ihr Personal um eine halbe Stelle erweitern können, die von Land, Kreis und Caritasverband finanziert wird. Nicole Ernesti widmet sich dort der niederschwelligen spezialisierten Beratung bei Fällen sexualisierter Gewalt sowie der Präventionsarbeit.
Zahlen rauben jede Illusion
Die Zahlen aus der Polizeistatistik rauben jede Illusion: auf dem Land ist die Welt nicht mehr in Ordnung. Oder muss man sogar sagen, das Land in seiner Weitläufigkeit und Anonymität ist ein „guter“ Platz für sexualisierte Gewalt geworden?
Zunächst so viel: Es gibt keine belastbaren Zahlen zur Häufigkeit. Viele Opfer sind einfach zu jung für eine verlässliche Aussage oder sie schweigen sehr lange aus Scham. Geschätzt wird, dass etwa eine Million Kinder in Deutschland betroffen sind. In der Kriminalstatistik sind nur die Fälle erfasst, bei denen Strafanzeige erstattet wurde. Viele Menschen glauben allerdings, dass Kinder und Jugendliche auf dem Land weniger häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Das entspricht leider nicht den Forschungsergebnissen und Erfahrungen.
Das erschüttert und überrascht…
Je stärker die Orientierung an traditionellen Werten ist, umso mehr laufen Kinder und Jugendliche Gefahr, zu Betroffenen zu werden. Das trifft sowohl auf die häufigste Form der sexualisierten Gewalt zu - das ist tatsächlich die, die in der Familie geschieht - als auch auf die sexualisierte Gewalt außerhalb der Familie. Auch ist es so, dass sexualisierte Gewalt in der Vergangenheit im ländlichen Bereich weniger aufgedeckt wurde. Denn da, wo vermeintlich jede(r) jede(n) kennt, ist die Hemmschwelle über das Erlebte zu sprechen, noch höher. Die Angst vor Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung oder Verlust von Kontakten ist sehr ausgeprägt. Diese Strukturen sind besonders täter*innenfreundlich.
Woran liegt es, dass die Fallzahlen zunehmen?
Das lässt sich aus meiner Sicht nicht so einfach sagen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich zum einen das Anzeigeverhalten und auch die Sensibilität hinsichtlich der Thematik verändert haben. Dieses resultiert sicherlich auch aus den aufgedeckten Straftaten der letzten Zeit wie zum Beispiel in Lügde. Zum anderen wird nun auch mehr Personal für umfangreiche Ermittlungsarbeiten bei der Polizei eingesetzt. Auch die Tatsache, dass „Grooming“ (die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen mit Absicht des sexuellen Übergriffs) nun zu den strafbaren Handlungen zählt und verfolgt wird. So etwas sensibilisiert zusätzlich.
Spektrum der Fälle ist breit gefächert
Ohne konkrete Fälle zu schildern: Aber können Sie einmal Beispiele nennen, mit denen Sie in Ihrer Beratungstätigkeit konfrontiert werden?
Aktuell häufen sich die Fälle. Das Spektrum ist breit gefächert: Kinder und Jugendliche kommen von Klassenfahrten zurück und haben Grenzüberschreitungen erfahren. Hier in Brilon war Kirmes – bei solchen Veranstaltungen oder bei Partys kann es immer einmal zu Übergriffen kommen. Ein anderes Beispiel: Eltern oder Familien suchen unsere Beratungsstelle auf, um Doktorspiele einordnen zu können. Mal können diese Spiele wirklich übergriffig sein, mal gehören sie aber auch zur normalen Sexualentwicklung. Auch darüber sprechen wir. Die Situationen sind immer sehr unterschiedlich und auch die Personen. Eine Frau zum Beispiel brauchte Hilfe nach einem Übergriff. Sie wollte einfach Infos, wie eine Strafanzeige abläuft, ob da bei der Polizei ein Mann sitzt oder wie lange das Verfahren dauern kann.
Sie haben eben den Begriff „Grenzüberschreitung“ benutzt. Sollten Grenzen nicht allein schon gesellschaftlich und moralisch klar definiert sein?
Nein, jeder Mensch definiert seine Grenzen und deren Überschreitungen. Es gibt dafür keine allgemeingültige Definition. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, den Fall zu beurteilen oder in Frage zu stellen. Ich bin kein Staatsanwalt und keine Ermittlungsbehörde. Wer zu uns kommt, der hat einen ganz klaren Bedarf. Und darüber reden wir. Jeder Mensch, der den Eindruck hat, etwas Grenzüberschreitendes erfahren zu haben sollte sich nicht scheuen, die Beratung in Anspruch zu nehmen.
Wie sieht denn Ihre konkrete Hilfestellung aus?
Um beim Beispiel der Eltern und der Doktorspiele zu bleiben. Es hilft dem Kind nicht, es aus Sorge oder Bestrafung einfach aus dem Umfeld zu nehmen oder ganz in Watte zu packen. In so einem Fall kann es auch für Eltern zunächst hilfreich sein, einen geschützten Ort zum Reden zu haben mit einer vertraulichen Person. Sie werden mit wichtigen Informationen versorgt, ermutigt und begleitet, auch für sich zu sorgen, um mit größtmöglicher Kraft und Gelassenheit, ihrem Kind bei der Verarbeitung der Gewalterfahrungen zu helfen. Das ist wie mit der Sauerstoffmaske im Flugzeug. Zuerst setzen die Eltern sie auf, um dann den Kindern helfen zu können. Für Eltern ist es an dieser Stelle auch oftmals wichtig und entlastend, ihre konkreten Fragen zum Umgang mit dem Kind oder Erklärungen von Verhaltensauffälligkeiten beantwortet zu bekommen. Gefühle, Ängste, Sorgen können in dieser Phase „sortiert“ und vorhandene Ressourcen aktiviert werden.
Die Klientel ist fast ausschließlich weiblich
Wie groß ist eigentlich das Verhältnis Männer – Frauen, die zu Ihnen in die Beratung kommen?
Die Klientel ist fast ausschließlich weiblich. Die Täter sind überwiegend männlich und oft im Alter bis 21 Jahre. Aber durchaus können auch Männer zu Opfern werden. Bei Männern herrscht noch das überlieferte Rollenverständnis. Einem Mann passiert so etwas nicht, ein Mann stellt sich nicht so an. Auch wenn die Fallzahlen eher geringer sind, möchte ich aber ausdrücklich auch männliche Kinder und Jugendliche, die einen Grenzüberschritt erlebt haben, ermutigen, zu uns in die Beratung zu kommen.
Die Situationen, auf die Sie reagieren müssen, scheinen sehr facettenreich und vielfältig zu sein. Wie gehen Sie damit um?
Ja, das ist so. Es gibt zum Beispiel auch Opfer, die sich immer noch zum Täter hingezogen fühlen. Das ist emotional sehr belastend. Letztlich ist es immer entscheidend, wo und durch wen die sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde. Die Erschütterung bei den Ratsuchenden ist z.B. bei der innerfamiliären Form der sexualisierten Gewalt am schwerwiegendsten. Wenn Eltern(teile) zu uns in die Beratung kommen, deren Kinder betroffen sind, so sind diese oftmals zutiefst irritiert, verunsichert und emotional extrem belastet. Auch empfindet ein Teil der ratsuchenden Eltern(teile) Versagensängste oder auch Schuldgefühle, ihr Kind nicht ausreichend geschützt zu haben. Insbesondere ist die Realität schwer zu akzeptieren, wenn der Täter, die Täterin aus dem engsten Umfeld stammt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ihre Klienten unter Umständen mit Problemen zu Ihnen kommen, deren primäre Ursache ein Sexualdelikt ist, wo das aber zunächst gar nicht zur Sprache kommt…
Ja, das ist so. Wenn Kinder oder Jugendliche in die Beratung kommen, kann das ganz unterschiedliche Gründe haben. Die Folgen und die Dynamik bei Betroffenen ist insgesamt sehr vielschichtig und von vielen individuellen Faktoren abhängig: Insbesondere junge Kinder können das Erlebte oftmals noch gar nicht einordnen. Wutausbrüche, Konzentrationsstörungen, motorische Hyperaktivität oder übertriebene Schreckreaktionen können vorkommen, um Beispiele zu nennen. An dieser Stelle ist es aber auch wichtig zu sagen, dass diese Symptome im Umkehrschluss bei noch nicht aufgedeckter sexueller Gewalt allein nie dazu dienen, auf einen Fall von sexualisierter Gewalt zu schließen. Sie können allesamt auch Ausdruck anderer Probleme sein. Wenn die Situation nicht klar ist, muss man immer eine Alternativ-Hypothese bilden.
Wie würden Sie ihr Angebot umschreiben?
Unser Beratungsangebot, bzw. die Beraterin, möchte den Kindern/Jugendlichen zunächst das Gefühl von Halt und Orientierung vermitteln, wo doch das innere Orientierungssystem ins Wanken geraten ist. Die Beratungsstelle wird als sicherer Ort erlebt. Wir kennen Stabilisierungsübungen, arbeiten am Aufbau von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit und üben Bewältigungsstrategien. Wir ermutigen Kinder, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Schwere und chronische Traumatisierungen sollten in Absprache mit den Ratsuchenden und auf Wunsch mit unserer Begleitung in einem therapeutischen Rahmen bearbeitet werden
Wie niederschwellig ist das Angebot?
Unser Angebot ist vertraulich und auf jeden Fall kostenlos. Auf Wunsch beraten wir auch anonym. Der Einzelne steht im Mittelpunkt und jeder entscheidet selbstbestimmt über Inhalt und auch das Tempo. Wir sehen den Einzelnen und schauen gemeinsam, was er/sie brauchst. Wir reduzieren die Person nicht auf das Erlebte und berücksichtigen ihre/seine Stärken!