Brilon. Bliebe das Gas eines Tages aus, hält Landtagsabgeordneter Matthias Kerkhoff alles für möglich - auch dass die Industrie vom Netz genommen würde:

Das Gas aus Russland fließt seit Donnerstag wieder. Fragt sich nur: wie lange? „Diese ständigen Drohgebärden werden anhalten. Putin betreibt damit hybride Kriegsführung, um unsere Demokratie zu destabilisieren. Wenn es wirklich zu einem massiven Gas-Engpass kommen sollte, müssten auch Industrien vom Netz gehen - mit all den Folgen, die das für eine Volkswirtschaft hätte. So etwas haben wir in Nachkriegsdeutschland noch nicht erlebt. Und wenn die Frage gestellt wird, wie der Staat das ausgleichen kann, so lautet die Antwort: Das wird er nicht können.“

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Fiktives Szenario, reale Sorgen

Das Szenario von den leeren Gas-Speichern ist momentan noch Fiktion, die Sorge davor aber sehr real. Selten hat der heimische Landtagsabgeordnete Matthias Kerkhoff (CDU) bei seinen Sommerpressegesprächen so viele Fragen zu Energieversorgung, Krieg, Systemrelevanz und gesellschaftlichem Zusammenhalt beantworten müssen wie gestern in Brilon. Es ist sein elftes Sommer-Gespräch und eigentlich will der Olsberger ein erstes positives Fazit der neuen schwarz-grünen Koalition in NRW ziehen. Er berichtet, dass so ein Koalitionsvertrag zwar verbindlich sei, in Anbetracht der dynamischen Entwicklungen in Sachen Ukraine oder Corona aber Grundvertrauen die wichtigste Basis sei, um schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Erste klimaneutrale Industrieregion, keine Schulsystem-Debatten, 10.000 zusätzliche Lehrer, 3000 neue Polizeikräfte, 20 Prozent mehr Studienplätze für Medizin – all das hat Kerkhoff auf seiner Pressemitteilung stehen. Aber immer wieder kehrt das Gespräch zurück auf Krieg und Krisen.

Südwestfalen, Corona und ÖPNV

„Kein Südwestfale im Landeskabinett“ - die Schlagzeile ist Kerkhoff quer runtergegangen: „Man sollte eine Regierung nicht nach Regionalproporz, sondern nach Befähigung aufstellen.“ U. a. mit Thorsten Schick (Iserlohn) als Fraktionsvorsitzender und ihm als Parlamentarischer Geschäftsführer sei Südwestfalen gut vertreten. Zudem sitze Staatssekretär Dr. Bernd Schulte mit am Kabinettstisch.Lockdowns oder Schulschließungen durch Corona schließt Kerkhoff für den Herbst aus - „sofern es keine neuen, gefährliche Varianten gibt“. Die derzeitige Belastung des Gesundheitssystems lasse viele Lockerungen zu. Das Tragen von Masken in Innenräumen zum Herbst sei denkbar.Ein klares Ja zur Pendlerpauschale vertritt Kerkhoff: Sie sei die Voraussetzung dafür, um hier in der Region ein Arbeitseinkommen zu erzielen und hier zu wohnen. Geld für den Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs müsse dazu verwandt werden, auch im ländlichen Raum attraktive Angebote zu schaffen und nicht dafür, in Ballungszentren bestehende Abgebote attraktiver zu machen.

Energieversorgung

Das vorhandene Gas müsse im Notfall so eingesetzt werden, dass die Grundfunktionen - Krankenhäuser, Schulen, Wohnungen, industrielle Produktion - aufrecht erhalten blieben, sagt Kerkhoff. Auch die Schließung von Turnhallen oder Schwimmbädern könne in so einem Fall kein Tabu mehr sein. „Ausschließen würde ich dann nichts. Aber so weit sind wir ja noch nicht. Ich finde es aber richtig, sich darauf vorzubereiten.“ Die Bundesnetzagentur arbeite an Prioritäten- und Notfall-Listen. Fakt sei aber auch, dass nicht mehr jeder Privat-Haushalt die enormen Kostensteigerungen bei Öl oder Gas stemmen könne. „Da muss es staatliche Hilfen geben – und nicht nach dem Gießkannen-Prinzip. Den Menschen im niedrigen Einkommensbereich muss gezielt geholfen werden.“ Denkbar sei, dass zum Beispiel dieser Personengruppe eine bestimmte Menge Gas pro Kopf zu verbilligtem Preis angeboten werde. Weil das Thema Energie aber auch in vielen anderen Bereichen zu Kostenexplosionen führen werde (z.B. in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen), macht Kerkhoff deutlich: „Der Staat wird nicht in der Lage sein, die Mehrkosten für jeden einzelnen aufzufangen.“

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Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Landtag, der in der dritten Legislaturperiode in Düsseldorf arbeitet, spricht von einer „ernsten Situation“, warnt aber auch vor Panikmache. Jeder einzelne könne mit dem Dreh am Heizungsthermostat seinen Beitrag dazu leisten, Gas zu sparen bzw. für andere Bereiche verfügbar zu machen und um die nächsten zwei Winter zu überbrücken. Unsere Gesellschaft stehe vor einer Charakterfrage. „Bei allen Sorgen und Bedenken, die wir hier haben, tragen die Menschen in der Ukraine momentan die größte Last. Dort wird gerade unser Verständnis von einer regelbasierten Weltordnung verteidigt. Es geht in dem Krieg um das Gesellschaftsmodell der freiheitlichen Demokratie.“

Windkraft

Es war sicherlich eine der Kröten, die die CDU beim Koalitionsvertrag mit den Grünen schlucken musste. Erst vor einem Jahr hatte die damalige CDU/FDP-Regierung einen Mindestabstand von 1000 Meter zwischen Wohnbebauung und Windenergieanlagen beschlossen. Das ist nun vom Tisch. „Ich hätte gerne an den tausend Metern festgehalten. Sie waren immer ein Instrument, um Akzeptanz zu schaffen. Ich glaube aber, dass wir über andere Instrumente Möglichkeiten zu mehr Akzeptanz gefunden haben.“ Als einen wichtigen Punkt nennt er die Konzentration von Windrädern. Gebündelt, statt einzelner Wildwuchs. „Außerdem öffnen wir Flächen im Bereich von Natur- und Artenschutz, wir öffnen alle Kalamitätsflächen, wir gehen entlang von Autobahnen, von Schienentrassen, in vorbelastete Gebiete und wir können in Industriegebieten mehr machen – all das sind Dinge, die Akzeptanz steigern.“

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Alternativen finden

Dass vor allem die Touristik-Branche, diese Entwicklung mit Skepsis verfolgt, weiß Kerkhoff. „Das wird alles Teil eines Aushandlungsprozesses sein. Es wird nicht so sein, dass man sagt: Wir haben hier Tourismus, wir wollen mit Windenergie nichts zu tun haben. Das wird nicht funktionieren. Aber natürlich muss man sich die regionalen Begebenheiten anschauen, um festzustellen, wo passen Windräder hin, wo sind sie verträglich. Wenn wir gewisse Höhenzüge freihalten wollen, müssen wir sagen, was wir alternativ zur Verfügung stellen wollen. Mein Eindruck ist, dass – anders als noch vor fünf Jahren – ein deutlich offenerer Umgang bei der Diskussion um alternative Energien stattfindet.“