Brilon. Für die Honoratioren der Stadt Brilon ist er das Muss zum Marsch: der blaue Schnadekittel. Maria Morgenroth schneidert sie. Wir haben sie besucht
Wir wollen es ja nicht herbeischreiben. Aber wenn es bei der ersten Schnade nach der Corona-Zwangspause wider alle Stoßgebete gen Himmel doch regnen sollte, können sich zehn Honoratioren auf ihr neuen Kittel verlassen. Sie werden nicht „im kurzen Hemd“ dastehen. Das Einlaufen hat der Stoff schon hinter sich. Gut vier Zentimeter auf den Meter hat die Ballenware bei der ersten Wäsche verloren. Danach konnte sich Maria Morgenroth an die Arbeit machen. Die fast 92-Jährige schneidert derzeit neue Schnadekittel für die Honoratioren der Stadt Brilon.
In den 50er Jahren etabliert
Für die Ratsmitglieder und die Repräsentanten der Verwaltung ist es das Muss zum Marsch. Mit blauem Kittel, rotem Halstuch und Schützenhut finden sie sich in aller Frühe zum Ausmarsch auf der Ratshaustreppe ein. Wann genau das grobe Tuch den auf alten Fotos dominierenden bürgerlichen Anzug ablöste, lässt sich nicht genau sagen. Dr. Peter-Karl Becker, Autor mehrerer heimatgeschichtlicher Bücher, vermutet, dass dies in den 50er Jahren gewesen ist.
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Das deckt sich auch mit einem Blick ins WP-Archiv. Dort ist erstmals von der Schnade 1958 ein Foto abgedruckt, auf dem Bürgermeister Julius Drescher und Stadtdirektor Ludwig Steiger den Kittel tragen. En vogue war das Outfit aber schon früher.
Aus dem Brabant nach Westfalen
Zwei Jahre zuvor hatte der WP-Redakteur nämlich notiert, dass Schnade-Esel Huberta „umringt von jungen Sauerländern im traditionellen blauen Kittel“, hinter der Fahne den Zug der Schnadegänger anführte.
Dr. Becker sagt, dass der sogenannte Blaukittel im Mittelalter durch Fuhrleute aus Brabant nach Westfalen kam. In den Benelux-Staaten sei er bei Brauchtumsveranstaltungen heute noch gang und gäbe.
Als zünftige Kluft für jeden Schnadegänger wurde der blaue Kittel 1988 in Brilon beworben. Damals feierte die Stadt das 600-jährige Jubiläum ihres einzigartigen Grenzbegangs. Doch gegen Jeans und Funktionskleidung vermochte sich das blaue Tuch letztlich nicht durchzusetzen.
Dabei kann der Stoff zumindest einen mäßigen Schauer aushalten, sagt Maria Morgenroth. Denn er besteht, und da geht die Frau vom Fach ins Detail, aus Baumwolle in Leinwandwebung. Da sind Kett- und Schussfäden besonders eng verkreuzt und bei einem Materialgewicht von rund 250 Gramm pro Quadratmeter ist der Stoff dicht und strapazierfest.
Blumenschnade
Um 6.45 Uhr Sammeln zur Blumenschnade auf dem Marktplatz, gegen 7.20 Uhr Ausmarsch-Zeremonie. Ankunft auf dem Frühstücksplatz am Schwarzen Haupt in Nähe des Flugplatzes gegen 10.30. Von dort um 12.30 Uhr Weitermarsch zum Lagerplatz am Eschenberg unterhalb des Bilsteins an der Straße nach Hoppecke. Von dort um 18.30 Uhr Rückweg in die Stadt, wo gegen 20 Uhr die Schnadegänger mit Glockenklang empfangen werden.
Den zu beschaffen war eine ziemliche Herausforderung für die Schneiderin. Als Mitglieder der Briloner Gewandschneiderei kennen sie und ihre Tochter Annette Kemmerling zwar die einschlägigen Quellen.
Doch bei den zahlreich bestellten Stoffmustern passte hier der Blauton nicht und da das Material. Marine-blau - „Da sieht bei jedem Hersteller anders aus.“ Fündig wurde die Schneiderin in einem kleinen Geschäft in Meschede. Eigentlich suchte sie dort etwas ganz anderes - und dann war noch dieser eine Ballen in der äußersten Ecke.
Dann kam die nächste Herausforderung: die Größe. Als Vorlage diente ein Kittel aus dem Fundus der Stadt.
Konfektionsgröße Pi mal Daumen
Der war mit XL angegeben - ein Maß, das eine Schneiderin zur Verzweiflung bringen kann. Für Maria Morgenroth ist das jedenfalls nur ein Anhaltspunkt. Sie weiß ja: „Bei diesen Größen nimmt jeder Hersteller andere Maße.“ Zehn Zentimeter Unterschied im Umfang seien da möglich.
Und was machte die Schneiderein? Sie verschaffte sich als erste einen Eindruck von den neuen Ratsmitgliedern, die die Kittel ja tragen sollen. Dann fertigte sie von der Vorlage in XL ein Schnittmuster an und änderte das detailgenau für Ausführungen in L, XXL und XXXL ab und passte das zumindest in etwa auf die Größe der künftigen Träger an.
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Etwa zwei Meter Stoff und zwei Tage Arbeit braucht die 91-Jährige für einen Kittel. Fuckelarbeit sind die schmalen Borte - „Da kommt es auf den Millimeter an.“
Was der Kittel nach wie vor nicht hat, sind Taschen - nicht einmal verdeckt auf der Innenseite fürs Handy. Da ist Maria Morgenroth resolut: „Das gab es früher auch nicht.“
Maria Morgenroth wäre gerne Schneiderin geworden: „Das war mein Jugendtraum.“ Aber als ältestes Mädchen von 12 Kindern musste sie zuhause mithelfen. Immerhin habe ihre jüngste Schwester auf ihren Rat hin das Schneiderhandwerk erlernt. Sie selbst habe dann auf der Nähschule „bei den Nönnekens“ das Rüstzeug für ihre Leidenschaft erworben. Und die bewahrt sie bis ins hohe Alter.
Anm. d. Red.: In der ersten Version war bedauerlicherweise der Name verwechselt worden. Statt Maria Kemmerling muss es korrekt Maria Morgenroth heißen.