Brilon. Nach der Tschernobyl-Katastrophe kamen Tetiana und Victoriia Sydorchuk als Kinder zu Rosi Kornemann nach Brilon. Jetzt sind sie wieder hier.

„Wundern Sie sich nicht, bei mir sieht es im Moment wüst aus“, meint Rosi Kornemann aus Brilon am Telefon, als wir den Termin zu unserem Treffen vereinbaren. Dort angekommen ist aber alles ziemlich ordentlich. Bis auf den großen Esstisch im Wohnzimmer. Dort liegen kreuz und quer verteilt etliche Briefe, Postkarten, Dokumente und Fotos. Zeugnisse einer inzwischen Jahrzehnte währenden Freundschaft. „Wir haben gerade in Erinnerungen geschwelgt“, sagt Rosi Kornemann.

Tetiana (links) und ihre Schwester Victoriia Sydorchuk mit Fotos von ihrem ersten Aufenthalt in Brilon
Tetiana (links) und ihre Schwester Victoriia Sydorchuk mit Fotos von ihrem ersten Aufenthalt in Brilon © Unbekannt | Felicitas Hendrichs

„Wir“, das sind Rosi Kornemann und Familie Sydorchuk aus der Ukraine. Vor fast einem viertel Jahrhundert haben sie sich kennen gelernt. Damals, im Jahr 1998, kamen Victoriia und Tetiana über die Organisation „SOS 86 - Kinder von Tschernobyl im Sauerland“ für einen Monat zu den Kornemanns nach Brilon. Die Organisation gibt es längst nicht mehr, die Freundschaft aber ist geblieben.

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Als im Februar der Krieg losbrach, hat Rosi Kornemann ihre Bekannten in der Ukraine sofort kontaktiert „Ihr könnt kommen und bleiben, solange Ihr wollt.“ Die Entscheidung nach Deutschland zu kommen, sei diesmal aber sehr schwer gefallen, erzählt Victoriia, die genau wie ihre Schwester Tetiana etwas Deutsch spricht und noch sehr viel mehr versteht. „Unsere Männer dürfen das Land ja nicht verlassen“, erzählt sie und ist den Tränen nah. Als sich die Lage in ihrer Heimatstadt Vyshgorod dann aber dramatisch verschlimmert, entscheiden sie sich doch zur Flucht. Auch zur Sicherheit ihrer Kinder und Mutter, die ebenfalls in Brilon bei Rosi Kornemann sind.

Aus Vorort von Kiew geflüchtet

Tetiana zeigt ein Video von ihrer Flucht: Im Hintergrund eine gesprengte Brücke, an den Straßenrändern zerstörte Autos, Trümmer. Man muss nicht wissen, dass Krieg herrscht, um zu verstehen, dass dort niemand mehr leben kann, erst recht keine Kinder.

Super-GAU

Am Dienstag ist Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl: In der Nacht zum 26. April 1986 explodierte der Reaktor.Rund 1,4 Millionen Menschen sollen laut Gesellschaft für Strahlenschutz an den Folgen gestorben sein.

Baby Roman, gerade knapp zwei Jahre alt, bekommt von unserer Unterhaltung nichts mit. Er schläft friedlich im Kinderwagen im Garten und lässt sich die Frühlingsluft um die kleine Nase wehen. Man kommt nicht umhin, dankbar dafür zu sein, dass er noch viel zu klein ist, um zu verstehen, was in seiner Heimat gerade vor sich geht. Eine gute dreiviertel Stunde später ist seine größte Sorge, dass er für ein Foto kurz von Mamas Arm soll.

Seit den
Seit den "Kinder von Tschernobyl"-Tagen hat Rosi Kornemann Kontakt zu Tetiana und Victoriia und ihrer Familie gehalten. © Unbekannt | Felicitas Hendrichs

Seit Kriegsbeginn stehen Rosi Kornemann und Familie Sydorchuk im ständigen Austausch. Bis am 8. März urplötzlich der Kontakt abbricht. Kein Strom, kein Internet. Der Krieg legt alles lahm. Am 1. April dann endlich die erlösende Nachricht aus dem nur 10 km von der Hauptstadt Kiew entfernten Vyshgorod: „Wir kommen!“

Die Flucht beginnt nachts mit einer Fahrt im Zug. Alle Fenster sind mit Papieren und Decken verdunkelt, um nicht unter Beschuss zu geraten. Sie fahren zunächst nach Warschau.

„Ich habe mehrmals mit Organisationen in Polen telefonieren müssen, damit alles funktioniert“, sagt Rosi Kornemann. Im Bus geht es weiter nach Deutschland. Am 9. April um 7 Uhr morgens kommen sie endlich in Dortmund an und werden von Rosi Kornemann in Empfang genommen.

37 Tage in einem Bunker

Die Erleichterung können Menschen, die noch keinen Krieg erleben mussten, wohl nur erahnen. 37 Tage musste die Familie in der Ukraine in einem Bunker ausharren und um ihr Leben fürchten. Victoriia zeigt Fotos. Ein enger dunkler Raum. Notdürftige Betten, an der Wand stapeln sich die Konserven. Ein paar Kerzen sorgen für ein klein wenig Licht. Es ist beklemmend.

Rosi schildert Erzählungen von Tetiana, die den kleinen Roman manchmal nur aus Angst entdeckt zu werden stillen musste. Damit er aufhört zu weinen. Mucksmäuschenstill mussten sie sich verhalten. Aber wer erklärt das einem Zweijährigen?

So führt die Sydorchuks nun also schon zum zweiten Mal ein kollektiver Schicksalsschlag nach Brilon. „Das Zusammenleben klappt reibungslos“, erklärt Rosi Kornemann. Außerdem sei ihr Mann im Januar verstorben: „Wir helfen uns gegenseitig“. Sie kochen zusammen, gehen zusammen einkaufen, organisieren den Tag. „Ich bin der Finanzminister“ scherzt Rosi Kornemann

Sorgen vor Rückkehr und Zukunft

Sie bekomme auch von vielen Seiten Unterstützung. Einige bringen Lebensmittel vorbei, andere wollten sogar Geld geben. „Aber das möchte ich nicht“, sagt sie. Die Rente sei zwar auch nicht das Gelbe vom Ei, aber es gehe ihr schließlich gut. Sie erzählt von dem völlig zerfledderten Langenscheidt-Wörterbuch von ihrem ersten Treffen im Jahr 1998. Sie seien damals viel im Kurpark unterwegs gewesen. Fotos vom Ponyreiten liegen zwischen den anderen Erinnerungen auf dem großen Esstisch, an dem es derzeit wieder viel ukrainisches Essen gibt. Kommende Woche ist auch der Propst zu Mittag eingeladen.

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Wie lange Familie Sydorchuk noch bleiben wird, ist unklar. Zunächst sollten es nur vier Wochen sein - einmal durchatmen und zurück in die Heimat, zu ihren Männern. Die aktuellen Entwicklungen lassen dies aber wohl nicht zu. Außerdem: Gehen sie wieder zurück, wird eine eventuell erforderliche erneute Ausreise ungleich schwieriger als die erste. Vielleicht nehmen sie Rosi Kornemanns Versprechen doch wörtlich - „Ihr könnt bleiben, solange Ihr wollt.“