Brilon. „Es ist wie die Urangst des Mannes“, sagt Sven aus Brilon. Er leidet unter Sexueller Dysfunktion. Er spricht über Scham, Angst und seine Freundin

Sven Fischer* hat Angst. Angst davor, dass seine Freundin ihn verlässt. Seit fünf Jahren führt er zum ersten Mal wieder eine Beziehung. Zum ersten Mal traut er sich, offen zu sein, ehrlich und verliebt. Nach jahrelanger Einnahme von Antidepressiva leidet er an PSSD, einer Sexuellen Dysfunktion, die durch die Einnahme von SSRI entsteht. Zusammen mit anderen Betroffenen engagiert er sich im Verein PSSD Hilfe Deutschland. Sven Fischer lebt in Brilon. Seinen Namen will er in seiner Geschichte nicht lesen. Trotzdem erzählt er sie: „2010 wurde das erste Mal eine Depression bei mir diagnostiziert“, sagt er. Damals wohnt er bei seiner Mutter in Berlin. Er weiß nicht, was mit ihm los ist. „Meine Mutter hat mich zum Arzt geschickt. Der hat mir ein SSRI-Präparat verschreiben wollen. Ich habe abgelehnt.“

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Serotonin – um die Stimmung wieder aufzuhellen

SSRI bedeutet „Selective Serotonin Re-uptake Inhibitor“. SSRI erhöht die Konzentration des Botenstoffes Serotonin im Gehirn, das eine wichtige Rolle für Stimmung und Antrieb eines Menschen spielt. Die Steigerung der Serotoninkonzentration soll den Symptomen einer Depression wie gedrückter Stimmung und Antriebslosigkeit entgegenwirken. Der Arzneistoff wird daher gegen Depressionen und Panikstörungen eingesetzt. Sven Fischer liest sich – entgegen aller Empfehlungen – die Liste der Nebenwirkungen durch. Die ist lang. Einige Beispiele: „Verminderter Appetit und Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme, Nervosität, verringerter Spaß am Sex, Ängstlichkeit, Verwirrtheit, anormale Träume, Konzentrationsprobleme, Orgasmusstörungen, Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Tremor, Herzklopfen, Mundtrockenheit, Übelkeit, Gelenk- und Gliederschmerzen.“ „Ich habe das Medikament abgelehnt“, sagt Sven Fischer.

Aggressionen haben ihn im Griff

Nur wenig später weiß er aber: „Disziplin wird nicht reichen.“ In seinem dritten Semester gerät er in eine depressive Phase. Aggressionen haben ihn im Griff. Er denkt: „Alles ist so gleich.“ Damals führt er trotzdem eine erfüllte Partnerschaft. Über seine Depressionen redet er mit einer Kommilitonin, die unter derselben Krankheit leidet. Sie empfiehlt ihm einen Facharzt in Paderborn, einen Psychiater. „Der hat mich beraten, eine ganzheitliche Therapie wird aber bei einem Psychiater nicht angestrebt. Er hat mir ein Medikament gegeben.“ Sein erstes Antidepressivum.

Sven Fischer fühlt sich besser, agiler. Empfindet mehr Lust als früher. Es verändert seine Persönlichkeit. „Ich bin manchmal abends um neun Uhr noch auf Gerüsten herumgeklettert und habe Lieder gesungen“, erzählt Sven Fischer. „Irgendwie crazy. Überdreht.“ Trotzdem ist die Veränderung für ihn positiv.

2014 trennen er und seine Freundin sich. Er geht eine Zeit nach Süddeutschland. Es geht ihm schlechter, seine Medikamentendosis wird erhöht. „Ärzte haben mir Serotonin verschrieben ohne überhaupt zu prüfen, ob ich einen Mangel an diesen Botenstoffen habe, es wurde nie ein Blutspiegel gemacht“, sagt er heute. Damals hinterfragt er nicht. Er nimmt das Medikament, ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), das ihm die Ärzte verschreiben.

Da ist nur noch Taubheit – keine Gefühlsspitzen mehr

Irgendwann merkt er nichts mehr. Da ist nur noch Taubheit. SSRI unterdrücken Gefühlsspitzen. Extremes Glück und extreme Traurigkeit fühlt Sven Fischer nicht mehr. Abgekappt. Alles ist gleichgültig, monoton. Nicht mehr intensiv. Zum ersten Mal merkt er, dass die Taubheit auch seine Sexualität ergreift. Nichts geht mehr. Er geht zum Arzt, lässt Organe und Hormone überprüfen. „Ich habe fast krankhaft versucht herauszufinden, ob alles in Ordnung ist.“ Verschiedene Ärzte sagen immer dasselbe: Die Depression. Die unterdrückt die Libido. Stress. Traurigkeit. Deswegen regt sich nichts mehr.

Schlimm, belastend – Sein Ego scheint gekränkt

„Es war schlimm und belastend“, sagt Sven Fischer. „Es ist wie die Urangst des Mannes. Und gleichzeitig triggert dich die Gesellschaft immer wieder, konfrontiert dich immer wieder mit Sexualität.“ Damals arbeitet er als Sozialarbeiter, kündigt, geht in eine Reha-Klinik. Dort baut er neues Selbstbewusstsein auf. Manchmal trifft er Frauen. Dass nichts zwischen ihnen passiert, schiebt er auf den Gedanken, dass er nicht so der Typ ist für One-Night-Stands. Sven Fischer will sich ausleben, schafft es aber nicht. „Ich hatte das Gefühl, mein Ego wäre gekränkt.“ Mit Potenzmitteln klappt es dann doch. Fast glaubt er, die Odyssee sei beendet.

2017 setzt er die SSRI-Preperate ab. Sein Verlagen verschwindet komplett. „Alles war tot und kalt.“ Sven Fischer will das nicht so stehen lassen. „Ich wollte meine Sexualität noch leben. Sie war mir noch etwas wert. Ich wollte mir beweisen, dass ich im Kopf noch immer der Mann bin, der flirty sein kann.“ Doch es klappt nie richtig. Er beendet eine Beziehung, leidet unter Schlafstörungen und Ängsten. Sex wird zur Anstrengung. „Als würde ein kleiner Mann auf meiner Schulter sitzen und mich fragen: Klappt es? Klappt es nicht?“

Er recherchiert im Netz. Und findet das PSSD-Syndrom. Das beschreibt die Sexuelle Dysfunktion, die durch die Einnahme von SSRI entsteht. Erleichterung! „Es war ein Erfolg für mich. Ich wusste, dass mein Körper wollte, aber einfach nicht konnte. Dass es körperlich ist. Nicht psychisch, wie alle es mir immer wieder gesagt haben.“

Mit dem Ergebnis sucht er seinen Arzt auf, der ihm bestätigt, dass das Syndrom selten sei, aber möglich. Sven Fischer beginnt die Einnahme von Testosteron. Es soll die eigene Produktion des Hormons wieder in Gang und die Libido zurück bringen.

Er verliebt sich – und sagt ihr die ganze Wahrheit

Aus einer Affäre über Tinder entsteht in dieser Zeit eine Beziehung. Seine heutige Freundin. Mit Potenzmitteln schafft er es, Sexualität zu leben – nur nicht immer. An einem Morgen im Bett erzählt er seiner Freundin die Wahrheit. „Ich habe geweint. Ich hatte Herzklopfen. Sie ist ein so offenes und lustiges Mädchen. Sie begegnet meinen Zickereien mit viel Humor. Sie hat überrascht reagiert, und geschockt. Darüber, dass es so etwas gibt.“ Sie bleibt bei ihm, bis heute sind sie ein Paar. Sie ist verständnisvoll, drängt ihn nicht. Nur manchmal, wenn sie ihm sagt, er solle sich nicht so viel Druck machen, so lasse er ja eh nicht zu, dass es funktioniere. Dann verzweifelt er wieder einen Moment. „Es ist doch körperlich. Es hat nichts mit meinem Kopf zu tun.“

2019 stößt Sven Fischer auf den Verein PSSD Hilfe Deutschland e.V., in dem sogar betroffene Ärzte Mitglied sind. Der Austausch mit anderen hilft ihm. Er übernimmt einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit, nachdem er sich lange zurückgehalten hat. „Ich hatte Angst, mich immer wieder mit diesem Thema zu konfrontieren. Jetzt will ich mich engagieren. Und das hier, meine Geschichte, ist der erste Schritt.“

*Name geändert und der Redaktion bekannt