Hochsauerlandkreis. Hände waschen, bis die Haut reißt – das kann Ausdruck einer Zwangsstörung sein. Ein Experte erläutert, was die Warnzeichen sind.

Der Besuch im Badezimmer am Morgen dauert Stunden, weil alle Utensilien an einer bestimmten Stelle stehen müssen. Die Hände werden zig Mal gewaschen, damit sie auch wirklich sauber sind. Immer wieder wird nachgesehen, ob die Haustür auch tatsächlich abgeschlossen ist.

Zwangsstörungen können sich auf unterschiedlichste Weise äußern. Während der Coronakrise achten Menschen vermehrt auf Hygienebestimmungen und waschen sich oft die Hände. Könnte das der Beginn einer Zwangsstörung sein? Christian Rademacher vom Sozialpsychiatrischen Dienst des Hochsauerlandkreises erklärt, woher Zwangsstörungen kommen und ob Corona einen Einfluss darauf haben kann.

„Derzeit wird geforscht, ob Corona dazu beiträgt, dass ein erhöhtes Risiko besteht, eine Zwangsstörung zu entwickeln. Dazu fehlen aber noch die Ergebnisse“, sagt Rademacher. Er hält es aber für wahrscheinlich, dass Corona solche Störungen verschlimmern kann. Die Unsicherheit in Kombination mit Stressverhalten könnte dafür sorgen, dass anfällige Personen jetzt gefährdeter sind.

Forschung nach Ursachen

Laut Rademacher sehen Forscher hinter der Krankheit unter anderem eine genetisch bedingte Ursache. Aber auch ein sozialer Lernprozess könnte dahinterstecken. Wenn die eigenen Eltern beispielsweise zwanghafte Handlungen an den Tag legen und diese jeden Tag vorleben, könnte es sein, dass das Kind diese übernimmt.

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„Es gibt aber auch den Ansatz der Konditionierung. Ein neutraler Reiz, wie zum Beispiel Schmutz, wird durch ein gleichzeitiges Auftreten mit einem angstauslösenden Ereignis dann zu einem angstauslösenden Reiz.“ In einem zweiten Schritt erlebten Betroffene, dass sie die Angst verringern können, indem sie bestimmte Verhaltensweisen zeigen, wie zum Beispiel Waschen. Da das Waschen dadurch positiv verknüpft wird, wird es in der Folge immer wieder gemacht.

Fünf Fragen, die beim Einordnen helfen können

Ärzte sollten Patienten mit psychischen Störungen explizit nach Zwängen fragen. In diesem Prozess gibt es fünf Fragen, die sich jeder auch selbst stellen kann:

Waschen und putzen Sie sehr viel?

Kontrollieren Sie sehr viel?

Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?

Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?

Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?

Rademacher merkt aber an, dass die Fragen und Antworten auch Auslegungssache sind. Denn es ist nicht definiert, was „sehr viel“ und „sehr lange“ genau bedeutet. Daher sagt er: „Es kommt immer auf den Einzelnen an.“

Rademacher gibt aber auch Entwarnung: „Einen kleinen Tick haben wir alle. Wichtig ist aber, dass er nicht mit Leidensdruck und Einschränkungen der Lebensqualität einhergeht.“ Auch wenn die Person glaubt, dass es zu furchtbaren Ereignissen kommt, wenn sie ihrem Verhalten nicht nachgibt, ist das ein Warnzeichen.

Den Betroffenen sei oft bewusst, dass ihr Verhalten unsinnig ist, aber sie sähen keine Alternativen, weil diese aus ihrer Sicht größeres Leiden auslösen würden. In Therapien müssen sie lernen, damit umzugehen, um den erheblichen Einfluss der Angst auf das eigene Leben verringern zu können. „Sonst stecken sie immer wieder in dieser Schleife fest“, sagt Rademacher.

Behandlung kann oft erst spät beginnen

Problematisch an Zwangsstörungen sei allerdings, dass sie erst spät behandelt würden. Dabei seien Schätzungen zufolge etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Zwangsstörung betroffen. Die Dunkelziffer dürfte laut Rademacher noch höher ausfallen. Damit gehören Zwangsstörungen zu den häufigsten psychischen Störungen im Erwachsenenalter.

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Seiner Auskunft nach vergehen im Schnitt 7,5 Jahre, bevor sich die Erkrankten professionelle Hilfe holen. Der Grund dafür liegt laut Rademacher oft im Schamgefühl. Die Hemmschwelle für einen Hilferuf sei zu hoch.

Besonders ist die Situation für den Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes in der Coronakrise. Denn wie lässt sich jetzt unterscheiden, ob sich jemand aus Schutz vor Corona ganz normal die Hände wäscht oder bereits eine Zwangsstörung entwickelt? „Das ist die aktuelle Schwierigkeit, weil das Verhalten nicht unsinnig ist. Die Angst dahinter ist real, weil man sich anstecken könnte. Die Situation rechtfertigt das Handeln und der Grund wird als normal angesehen.“