Dr. Sandra Gintere stammt aus Lettland. Erst als Erwachsene öffnete sie zum ersten Mal eine Kirchentür. Das hatte weitreichende Folgen
Winterberg. Keine Gottesdienste zu Weihnachten in den evangelischen Kirchen - die Corona-Pandemie hat diesen festen Punkt im gewohnten Festablauf vieler Menschen zunichte gemacht.
Doch nicht alle Menschen verbinden Weihnachten von Kindheit an mit Krippenspiel, Weihnachtsbaum und "Stille Nacht": Wie sie mit 24 Jahren ihr erstes Weihnachten erlebte, schildert Dr. Sandra Gintere, seit einem Jahr Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Winterberg und Tourismus-Pfarrerin für den Kirchenkreis Wittgenstein.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen kann sich die heute 59-jährige Sandra Gintere aus Lettland ganz genau an ihr erstes Weihnachtsfest erinnern: Das war vor 35 Jahren, der Staat, in dem sie wohnte, hieß Sowjetunion. „Ich war mit dem Studium fertig und arbeitete im ersten Jahr als Lehrerin an einem Gymnasium in Riga. Und einer von meinen Kollegen hat mir gesagt, er studiere Theologie, um Pfarrer in der lutherischen Kirche zu werden. Für mich war das etwas Unglaubliches, etwas, von dem ich nie gehört hatte oder das ich mir nie hätte vorstellen können. Bis zu meinem 22. Lebensjahr hatte ich nie bewusst einen gläubigen Menschen getroffen oder gar etwas vom christlichen Glauben gehört. Und dann sagte mir dieser Kollege, er glaube an Gott, und seine Frau und seine Kinder auch. Ich war neugierig und gespannt und ich wollte gerne mehr wissen über den Glauben und den Lebensstil meines Kollegen und seiner Familie. Und im Dezember 1985 hat mein Kollege mich eingeladen, am Weihnachts-Gottesdienst in seiner Gemeinde teilzunehmen.“
Kirchenbesuch war gefährlich
Was es im real existierenden Sozialismus der Sowjetunion bedeutete, Christ zu sein, macht Sandra Gintere an einem Detail klar, wenn sie über den Vater ihres Kollegen spricht: „Er war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität. Er wusste ganz genau: Sollte jemand in seiner Ausbildungsbehörde erfahren, dass sein Sohn Pfarrer werden möchte, würde nicht nur sein Sohn seine Anstellung als Lehrer verlieren, sondern auch er als Professor an der Universität."
Auch Gintere hätte ihre Arbeit als Lehrerin verlieren können, sollte jemand erfahren, dass sie an Weihnachten zu einem Gottesdienst in einer Kirche war. "Ich wusste ganz genau, dass die Klassenlehrer verpflichtet waren, an Weihnachten vor den Türen der Kirchen zu stehen, um aufzupassen, dass ihre Schüler nicht in einen Gottesdienst gehen würden. Falls doch, wurden die Namen aufgeschrieben und an die entsprechende Schulbehörde weitergeleitet. Aber ich war einigermaßen sicher, dass so weit weg von Riga uns keiner beobachten oder gar erkennen würde.“
Nach zwei Stunden Fahrt kam die heutige Winterberger Pfarrerin in Aizpute an: „Erstmals in meinem Leben öffnete ich die Tür zu einer Kirche und wäre fast stehen geblieben. Denn was ich nicht erwartet hatte: Die Kirche war freundlich, hell und warm. Im absoluten Gegenteil zum Bus und der Natur um uns herum. Vorne standen zwei riesige Weihnachtsbäume. Diese waren mit Wachskerzen geschmückt. Die Orgel spielte leise weihnachtliche Melodien. Die Kirche war, für mich relativ unerwartet, voll, nur ganz vorne waren noch einige Plätze frei. Die ganze Atmosphäre berührte mein Herz zutiefst."
Berührt von der Atmosphäre in der Kirche
Noch mehr habe sie das überrascht, was es zu Hören gab, nämlich die erste Predigt in ihrem Leben, die ihr Kollege hielt. "Er lud uns, die Weihnachts-Gemeinde, ein, mit ihm über Josef nachzudenken. Was hat Josef in der Heiligen Nacht wohl gedacht? Wartete er auch, wie sein Volk, auf die Befreiung von der fremden Herrschaft? Hoffte er auf die baldige Ankunft des verheißenen Messias? Josef war damals in einer ähnlichen Situation, wie das lettische Volk unter der kommunistischen Besatzung.“
Für die damals 24-jährige Sandra Gintere folgte noch ein festlicher Abend mit ihrem Kollegen und seinen Verwandten sowie der Pfarrfamilie in Aizpute: „Weihnachten mit dem Pfarrer und seiner Familie zu feiern, überstieg meine Erwartungen und meine Vorstellungskraft. Als wir in die Wohnung kamen, duftete es schon verheißungsvoll nach Zimt, Lebkuchen und Bratäpfeln. Der Pfarrer setzte sich ans Klavier im festlich hergerichteten Wohnzimmer, seine Frau und seine Tochter nahmen ihre Flöten und der Jüngste bekam zu seiner großen Freude eine kleine Trommel. Und zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich das weltumspannende Weihnachtslied ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘. Alles schien mir wie in einem Märchen oder einem Film aus ferner Vergangenheit, an dem ich plötzlich teilhaben durfte.“