Brilon. Die 55-Jährige sollte ihre Wohnung in Brilon schon geräumt haben. Jetzt kann sie bleiben. Der Bund entlastet zudem die Städte von den Mietkosten.
Die in der vergangenen Woche vom Bundestag per Grundgesetz-Änderung beschlossene Übernahme der Mietkosten für Hartz IV-Empfänger entlastet die Kommunen im Hochsauerlandkreis um insgesamt rund 6,25 Millionen Euro. Für 6815 Personen trugen die Städte im August die Kosten der Unterkunft. Das teilte der Kreis auf Anfrage der WP mit.
Vielleicht muss der Bund künftig aus diesem Topf noch mehr Geld ins Hochsauerland schießen. Denn zurzeit lässt der HSK die Mietkosten in den einzelnen Regionen des Kreises neu ermitteln. Grund: Diezur Berechnung angewandten „Schlüssigen Konzepte zur Bestimmung der Unterkunft“ für Hartz IV-er und Sozialhilfeempfänger ist rechtlich nicht haltbar. Das hat das Bundessozialgericht im August einmal mehr festgestellt und damit dem Hamburger Consulting-Büro „Analyse & Konzepte“ quasi um die Ohren gehauen. Die Agentur stellt diese Mietobergrenzen-Analysen bundesweit für zahlreiche Kommunen zusammen.
Ob das BSG-Urteil Alexandra A. (Name geändert) helfen würde, ist fraglich. Gut elf Jahre wohnte die 55-Jährige mit ihrem Sohn in einem Mehrfamilienhaus in der Briloner Innenstadt. 420 Euro kalt bezahlte sie für die 83 Quadratmeter, für Heizung kamen rund 100 Euro dazu.
Wegen einer schweren Atemwegs- und Lungenerkrankung kann sich nicht mehr arbeiten: „Ich warte auf die Rente.“ Sie sei froh, so zentral leben zu können. So könne sie alles zu Fuß erledigen, und „auf dem Friedhof die Gräber von meinem Vater und meinem Mann besuchen“. Außerdem wohnt ihre Schwester mit in dem Haus. Die ist berufstätig und stehe ihr zur Seite, wenn sie Hilfe brauche.
Zumutung für den Steuerzahler
Als im Herbst vergangenen Jahres ihr Sohn auszog, so berichtet Alexandra A., habe der Eigentümer die Miete auf 350 Euro gesenkt, um das ihr im Rahmen des Sozialgesetzbuches II zustehende Limit nicht allzu sehr überzustrapazieren. Nach dem Verkauf des Hauses habe der neue Eigentümer wieder die alte Miete angesetzt. Aber schon da hatte sich das Job-Center gemeldet und sie aufgefordert, sich binnen sechs Monaten eine neue Bleibe zu suchen. Es sei „dem Steuerzahler nicht zuzumuten, für eine Hilfeempfänger dauerhaft unangemessene Unterkunftskosten zu finanzieren“.
200 Klage- und Widerspruchsverfahren im HSK anhängig
Zurzeit ist der gesamte HSK ein einziger sogenannter Vergleichsraum, der in drei Wohnungsmarkttypen gegliedert ist, und zwar in
Nr. 1: Arnsberg; Nr 2: Meschede, Sundern, Schmallenberg und Winterberg; Nr. 3: Brilon, Marsberg, Bestwig, Olsberg, Eslohe, Hallenberg und Medebach.
Künftig soll es vier „homogene Lebens- und Wohnbereiche“ geben: 1: Arnsberg; 2: Meschede, Sundern, Eslohe, Bestwig; III: Brilon, Olsberg, Marsberg; IV: Winterberg, Schmallenberg, Hallenberg, Medebach.
Kreisweit sind über 200 Widerspruchs- und Klageverfahren gegen das zur Zeit geltende „Schlüssige Konzept“ ruhend gestellt.
Sollte kein neues „Schlüssiges Konzept“ erstellt werden, tritt nach Angabe der Kreisverwaltung die allgemeine Wohngeldtabelle in Kraft, und zwar möglicherweise rückwirkend bis 2013.
Das würden kreisweit bei denpro Jahr mit rund 2,3 Millionen Euro Mehrkosten in die ohnehin durch Corona-Ausfälle belasteten kommunalen Haushalte schlagen.
294 Euro sieht das sog. „Schlüssige Konzept“ seit Anfang des Jahres als Limit für eine Person in Brilon, Olsberg und Marsberg vor. Das ist der kreisweit niedrigste Wert. In Hallenberg, Medebach, Winterberg und Schmallenberg sind 305 Euro angesetzt, in Eslohe, Bestwig, Meschede und Sundern 322,50 Euro und in Arnsberg 339 Euro. Zuletzt hatte der Kreis zur Jahreswende die Obergrenzen für die vier Vergleichsgebiete angepasst.
Dabei war die Mietobergrenze bei Ein-Personen-Haushalten für den Raum Brilon-Olsberg-Marsberg um 15 Euro gesenkt worden, bei den Vier-Personen-Haushalten allerdings angesichts des Wohnungsmarktes um rund neun Euro auf 564,30 Euro angehoben worden. Negative Auswirkungen hatte die Änderung nicht, Denn der Kreistag hatte in seiner Sitzung im vergangenen September beschlossen, zwar die Anpassungen nach oben vorzunehmen, auf eine „Umsetzung möglicher Korrekturen nach unten“ jedoch zu verzichten.
12.000 Fragebögen verschickt
Zumindest noch bis Ende des Jahres. Denn zurzeit führt der Hochsauerlandkreis eine Mietwerterhebung durch. Mitte August hat er kreisweit rund 12.000 Mieter und Vermieter mit der Bitte angeschrieben, die Wohnungsdaten mit Angabe der Kaltmiete, der Neben- sowie der Heizkosten anzugeben. Die letzte derartige Abfrage stammt aus dem Jahr 2016.
Schon vor drei Jahren in der Kritik
Auf Basis dieses aktualisierten Datenmaterials lässt der Kreis dann das zum kommenden Jahr in Kraft tretende neue „Schlüsselfertige Konzept“ aufbauen.
Schon vor drei Jahren hatte die Sauerländer Bürgerliste (SBL) beantragt, das jetzt einmal mehr vom Bundessozialgericht beanstandete und auch auch im Hochsauerland angewandte Verfahren zur Mietpreiserhebung zu ändern, denn damit würden „Städte und Gemeinden zu Vergleichsräumen zusammengefasst, die sehr unterschiedliche Mietstrukturen aufweisen,“ so der Briloner SBL-Kreistagsabgeordnete Reinhard Loos damals.
Brilon und Olsberg preiswerter als Medebach?
Auch die vor einem Jahr nach oben korrigierten Grenzwerte seien realitätsfern. Es sei nicht möglich, wird Loos in der Sitzungsniederschrift wiedergegeben, „für die aufgeführten Kosten adäquaten Wohnraum zu finden“. Zudem zweifelte er an, dass - wie festgesetzt - die Quadratmeterpreise in Brilon und Olsberg tatsächlich unter denen von Medebach lägen.
Das Bundessozialgericht definiert als Vergleichsraum einen - ausgehend vom Wohnort der leistungsberechtigten Person - ausreichend großen Bereich, der „aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet“
Wohnungssuche nicht zumutbar
Annegret A. braucht sich indes bis auf weiteres keine Sorgen zu machen. Die zur Jahreswende erfolgte Aufforderung der Briloner Stadtverwaltung, sich innerhalb eines halben Jahres eine preiswertere Wohnung zu suchen, ist hinfällig.
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Wegen der Corona-Pandemie, so die Fachbereichsleiterin für Ordnung und Soziales, Karin Wigge, „setzen wir Umzugsaufforderungen aktuell nicht durch.“