Altkreis/Bad Wünnenberg. Ein Schlaganfall verändert das Leben. Aber Betroffene kennen ihren persönlichen Weg aus der Krise. Den zeigt eine Ausstellung in der Aatalklinik.
Eben noch mit Vollgas auf der breiten Überholspur, jetzt im Schneckentempo auf dem steinigen Feldweg. Der Puls des Lebens rast. Bum, Bum, Bum. Es geht Schlag auf Schlag und manchmal auch Schlag auf Schlag, auf Schlaganfall. Leben ist nicht bis ins Detail planbar, eine Krankheit und deren Verlauf nicht steuerbar. Manchmal klopft das Schicksal vorher an, meistens tritt es unangemeldet ein. Und dann muss jeder seinen Weg finden. „My way“ so hat die Aatalklinik Bad Wünnenberg eine Ausstellung benannt, die tief berührt. Zwölf Menschen – vom Teenager bis zum Senior – berichten darin, wie ihr Leben aus den Fugen geraten ist, wie sie es wieder in den Griff bekommen haben, warum es jetzt anders, aber trotzdem lebenswert geworden ist.
Im Foyer der Klinik stehen zwölf verhüllte Bilder auf Staffeleien. Unter den Tüchern befinden sich Schwarz-weiß-Bilder. Fotos, die Menschen in ganz verschiedenen Lebenssituationen zeigen. Da ist Uwe S., dessen Gesicht halb hinter aufgefächerten Spielkarten verdeckt ist. „Ein wahrlich schlechtes Blatt. Herzfehler, Schlaganfall, vollständige Lähmung der linken Körperhälfte mit 48 – aber abgerechnet wird zum Schluss. Vor Augen, was im Leben wirklich zählt, kämpft sich Uwe S. zurück. Er wendet das Blatt und geht als Sieger in jede weitere Doppelkopfrunde des Lebens.“ Anke Heß, Thearapieleitung der Klinik, liest den Text mit ruhiger Stimme vor und lässt die letzte Silbe im Raum verhallen. Dann erklingt der Song „Kartenhaus“ der Gruppe „Silbermond“. Wie heißt doch gleich die Passage? „Jetzt bin ich aufgewacht, halt das Licht in meinen Händen. Hab schon nicht mehr dran gedacht, dass sich das Blatt noch einmal wendet.“ Wie passend.
Die ersten Tränen kullern. Mitleid, Wehmut, Freude, Selbstreflektion. Foto, Lebenslauf, Song-Text und Melodie bilden eine kunstvolle Einheit, die unter die Haut geht. „Wir Therapeuten und die Patienten haben die Texte gemeinsam erarbeitet und ganz knapp den persönlichen Schicksalsweg skizziert. Dann haben wir überlegt, ob es ein Lied gibt, das zu der Geschichte oder zu der jeweiligen Person passt. Und dann haben wir den Betroffenen möglichst in seinem ganz individuellen Umfeld fotografiert“, beschreibt Anke Heß die Entstehungsgeschichte von „My way“. Die Fotoausstellung gibt Menschen eine Stimme, die trotz neurologischer Krankheit für sich und ihre Familien wieder einen Weg in ihr Leben gefunden haben. „Oft zeigen wir nur Therapie-Verfahren, aber selten die Ergebnisse“, sagt Anke Heß. Hier und heute ist das anders.
Die nächsten Hüllen fallen: Ein Foto zeigt einen ein Mann aus Brilon. Martin I. erzählt gerne Geschichten. Ein Schlaganfall hat sein Sprachzentrum stark verletzt. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Martin I. ist heute selber da. Er greift zum Mikrofon, erzählt, wie er seinen Humor wiedergefunden hat und lobt die Therapeuten, die mit ihm diesen Weg gegangen sind, seinen Weg, his way. Und wieder gibt es Musik. Diesmal von den Toten Hosen. „An Tagen wie diesen…“ Und der Song-Schluss „Kein Ende ist in Sicht“ bekommt eine ganz andere Note.
Fortsetzung nicht ausgeschlossen
Die Ausstellung ist im ersten Obergeschoss der Aatalklinik zu sehen. Die Fotos hat Ergotherapeutin Lara Tonnat gemacht; deren Schwester Imke Tonnat ist Fotografin in Meschede und hat die Bilder perfekt bearbeitet.
Clara Schütte und Tobias Dierkes haben die Lieder am Tag der Ausstellung live performt. Clara Schütte macht zurzeit eine Ausbildung zur Ergotherapeutin im Haus und Tobias Dierkes ist der Ehemann einer Klinik-Mitarbeiterin; er ist selbst Musiktherapeut. Sie waren von der Idee so begeistert, dass sie ganz spontan zusagten.
Vermutlich wird es eine Fortsetzung der Ausstellung geben; die ersten Patienten haben sich gemeldet. Dann wird auch überlegt, das Element Musik auf Dauer hörbar zu machen. Denn eigentlich gehört es untrennbar dazu.
Chefarzt Dr. Rüdiger Buschfort, vorher lange Zeit Leiter der Klinik am Stein in Olsberg, freut sich sichtbar über die große Resonanz, die diese Ausstellung findet. „Es ist eine sehr spezielle Veranstaltung. Sie will dokumentieren, dass jeder Patient einen ganz individuellen Lebens- und Leidensweg hat.“ Eine Reha sei oft keine einfache Zeit, weil sie Blicke auf den Seelengrund offenbare und von anfänglicher Perspektivlosigkeit gekennzeichnet sei. „Wir Ärzte können oft nur Ratschläge geben und bleiben als Nichtbetroffene nur Theoretiker. Diese Ausstellung ist ein Dank an Therapeuten, aber auch ein Mutmacher für Patienten und Angehörige. Sie soll zeigen, dass man wieder zu neuen Ressourcen kommen kann und dass man für sich wieder eine lebenswerte Lebensqualität mit möglichst viel Unabhängigkeit finden kann.“
Maike M. bewegt sich im Rollstuhl auf die nächste Staffelei zu. Ihr Foto steht unter der Stoffhülle. Ein Teenager, der sich mit einem Strohhalm einen Longdrink gönnt. Vorsichtig steht die junge Dame auf, ist noch etwas wackelig auf den Beinen und greift zum Glas, um mit Anke Heß anzustoßen. Eine Hirnblutung hat Maike bei einem Schüleraustausch in den USA aus ihrem geplanten Leben gerissen. Drei Jahre lang bewegungsunfähig und sprachlos im Rollstuhl. Ihr erster bescheidener Wunsch damals: Sich wieder selbst an der Nase kratzen zu können, wenn’s juckt. Wünsche können bescheiden sein. „Ich sehe meine Krankheit nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung und Schritt in ein neues Leben“, sagt sie. Puh, das sitzt. Es gibt Musik von Jupiter Jones „Die Straße ist nicht immer eben. Und grad deswegen. Auf das Leben!“ Die junge Dame ist gerade dabei ihr Fachabi nachzumachen, macht parallel eine Ausbildung und hat bereits ein festes Job-Angebot.
Von der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe ist die stellv. Vorsitzende Sylvia Strothotte nach Bad Wünnenberg gekommen. Die Sterblichkeitsrate nach einem Schlaganfall habe sich in den letzten 25 Jahren halbiert. „Das ist gut so, das heißt aber auch, dass es immer mehr Menschen gibt, die nach einer solchen Erkrankung wieder in den Alltag zurückfinden müssen. Wir sollten daher mehr so gute Geschichten erzählen und Menschen eine Stimme geben, die wissen wovon sie reden.“
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Zwölfmal wird der individuelle „My way“ erzählt und einige weitere Patienten kommen zu Wort. Ein Mann, dessen Schluckmotorik nach dem Schlaganfall gelähmt war. Sein innigster Wunsch: Endlich mal wieder Pizza Salami. Hat funktioniert. Und dazu Musik von Helge Schneider: „Käsebrot ist ein gutes Brot“. Oder der begeisterte Tänzer, der anfangs nach dem Apoplex kaum auf den eigenen Beinen stehen konnte. Sein Wunsch: Nochmal den Hochzeitstanz mit seiner Frau. Dazu Lilian Harvey: „Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein…“ Das wirklich Wichtige im Leben setzt Ungeahntes frei.