Deifeld/Wissinghausen. . Erst Kitze retten, dann den Verein gründen: Im Raum Medebach bewahrt eine Gruppe von Freiwilligen kleine Rehe vor dem Mähtod.
Wiese hoch, Wiese runter. Sie sind acht Kilometer in zwei Stunden gelaufen. Zu viert nebeneinander her, den Blick starr auf Grashalme und Blüten gerichtet. Die letzten Meter robben sie auf allen Vieren, schieben vorsichtig Halme zur Seite. Eine Flasche Mineralwasser? Vergessen. Es musste schnell und spontan gehen. „Da ist eins!“ Glücksgefühl pur, wenn ein Rehkitz gefunden, in Grasbüschel verpackt, aufgehoben und im geruchsneutralen Papp-Karton in eine Nachbarwiese getragen wird.
Ganz spontan losgelegt
Kirsten Backhausen-Hesse hat ganz spontan mit der Rettung von Rehkitzen begonnen und in den vergangenen Wochen bereits manches Bambi vor den Messern des Mähwerks bewahrt. „Ich hatte vergangenes Jahr schon vor, einen Verein zu gründen. Aber dann war die Kitz-Saison vorbei“, sagt die ausgebildete Tierärztin. Schon von Berufs wegen weiß sie, wie Kitze aussehen, die „gemäht“ wurden. Kein schöner Anblick. Schmerzhaft, mitunter ein langer Leidensweg bis zum Tod. Diesmal hat sie einen Schritt vor dem anderen getan: Erst gerettet und dann soll nun im Sommer der Verein gegründet werden.
„Ich kam mit einem Jagdaufseher ins Gespräch, der wiederum von einem ortsansässigen Landwirt berichtete, der am nächsten Tag seine Wiese mähen wollte. Der Jagdaufseher war aber beruflich verhindert und konnte die Fläche nicht vorher abschreiten. Und so hatten wir unseren ersten Einsatz.“
Mit anderen Vereinen in Kontakt
Vorbild für die heimischen Naturfreunde sind die Kitzretter in Waldeck-Frankenberg, die schon seit einigen Jahren erfolgreich ehrenamtlich arbeiten und auch Kirsten Backhausen-Hesse mit Rat und Tat zur Seite standen. Die Nordhessen arbeiten mit Drohnen und sogenannten Vergrämern; das sind technische Geräte, die auf der Fläche verteilt werden und durch akustische und optische Signale Ricke und Kitz von der Wiese, die gemäht werden soll, fernhalten. Aber die Apparaturen kosten Geld und soweit sind die Kitzretter im Raum Medebach noch nicht.
Marsberger finanzieren Vergrämer aus eigener Tasche
Eine Idee macht Schule: Vor vier Wochen berichteten wir über Andrea Köhne aus Obermarsberg (Foto), die dort einen Verein zur Rettung von Kitzen gegründet hat.
Die 48-jährige Trainerin für Pferd und Mensch hatte ebenfalls von den Rettern im Kreis Waldeck-Frankenberg gehört, war mit einer Freundin bei einem Einsatz dabei und hatte beschlossen, selbst eine Gruppe ins Leben zu rufen. Acht Gleichgesinnte waren es zu Anfang; nach unserem Bericht ist die Zahl auf inzwischen immerhin 22 Leute angewachsen.
„Die Vereinsgründung nimmt ihren Lauf. Gestern kam die Anerkennung vom Finanzamt auf Gemeinnützigkeit; jetzt geht die Sache zum Anwalt und dann können wir hoffentlich auch bald Spendenquittungen ausstellen.“ Denn auf Zuwendungen ist der Verein angewiesen. Aus eigener Tasche haben die Mitglieder zehn Vergrämer angeschafft, weil das Abschreiten der Flächen einfach auf Dauer zu anstrengend und zu zeitaufwändig war. Einige Kitze haben die Helfer aus den Wiesen getragen; andere konnten durch Flatterbänder oder Vergrämer in Sicherheit gebracht werden.
Im Raum Marsberg läuft zurzeit schon die zweite Mahd der Wiesen; und weil es doch noch einige sehr junge Rehkitze gibt, sind die Retter weiterhin im Einsatz. Wer sich dort einbringen möchte, kann mit Andrea Köhne unter 0176 38708983 oder per Mail über kitzretter-marsberg@web.de direkt Kontakt aufnehmen.
„Wir haben uns zunächst 100 Weidezaun-Stäbe gekauft und Flatterbänder in den jeweiligen Wiesen angebracht - alles natürlich in Absprache mit den Eigentümern.“ Und dann werden die Wiesen abgeschritten: „Wir wollen den Landwirten den Druck nehmen, dem sie ausgesetzt sind. Unglücklicherweise treffen erste Mahd und Geburt der Rehkitze zeitlich aufeinander. Wir wollen uns nicht als Tierschützer profilieren, sondern unsere Hilfe anbieten. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit Jagdbeteiligten, Landwirten und Ehrenamtlern ein Problem zu lösen - und zwar Kitze vor dem Mähtod zu retten“, sagt Kirsten Backhausen-Hesse.
Schnell herumgesprochen
In der Grafschaft hat sich schnell herumgesprochen, dass sich Ehrenamtliche für Rehkitze einsetzen. Schnell kamen die ersten Anrufe: „Wir wollen mähen, könnt ihr helfen.“ Und dann wurde die Telefonkette in Gang gesetzt, um rasch einige Helfer zu finden, die spontan Zeit haben.
Durch soziale Netzwerke und die Medien ist das Thema „Kitztod“, das schon lange ein Problem ist, zuletzt stark in den Focus gerückt. „Wir sind noch ganz am Anfang. Neulich haben uns die Jagdgenossen aus Küstelberg vier Vergrämer geliehen.“ Damit wäre der Einsatz auf Dauer einfacher. „Wer uns künftig als Verein finanziell mit einer Spende unterstützt, könnte sich die Geräte bei uns dann auch ausleihen und im Herbst bei Wildschweinen einsetzen“, blickt Kirsten Backhausen-Hesse nach vorne.“
Wenn sie frühmorgens mit ihren beiden Hunden durch die Natur geht, hat sie mittlerweile einen völlig neuen Blick entwickelt. Sie scannt ihre Gegend ab und sieht schon, wo eine Ricke am Waldesrand steht und wo sie ihr Kitz gesetzt haben könnte. In den nächsten Tagen dürfte die größte Gefahr für die Tiere gebannt sein. Die meisten Wiesen sind gemäht, die meisten Kitze schon so alt, dass ihr Flucht-Instinkt ausgeprägt ist und sie nicht mehr auf das todbringende Mähwerk warten.
Dann kann die Phase der Vereinsgründung kommen. Wer sich engagieren oder auch später spenden möchte kann sich unter 0170 7311434 melden.
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