Brilon. . Jahrelang leidet ein Mann aus Brilon unter Zwangsstörungen. Er gerät in die Isolation, findet dann aber Hilfe – mit einer unbekannten Methode.

Die Ampel ist rot, der Wagen hält ordnungsgemäß an. Ein Teil des sechs Kilometer langen Heimweges ist geschafft. Normalerweise braucht Norbert Beckmann (Name von der Redaktion geändert) aus Brilon 15 Minuten für die Strecke. Dann sind es plötzlich vier Stunden. Gedanken bringen ihn immer wieder dazu umzukehren, Gedanken, die ihm sagen, dass seiner Familie etwas in der Zukunft passiert, wenn er die Strecke nicht auf eine bestimmte Weise absolviert. Norbert Beckmann leidet seit seinem 14. Lebensjahr an Wiederholungszwängen, die er nicht kontrollieren kann.

Er lernt den Umgang damit, bis es Anfang der 2000er Jahre aus dem Ruder gerät. „Es explodierte einfach aus irgendeinem Grund. Ich wiederholte Dinge so oft, bis die Gedanken wieder rein waren. Zu der Zeit hatte ich 16 Stunden am Tag mit meinem zwanghaften Verhalten zu kämpfen“, sagt Beckmann.

Keine Therapie, die erfolgreich war

Er befand sich in Behandlung, verbrachte acht Wochen in einer stationären Therapie. Erfolglos. An Arbeiten war nicht mehr zu denken, ambulant ging die Behandlung weiter. Zwei Jahre lang macht er Übungen mit einem Therapeuten, setzt sich Situationen aus, die ihn in zwanghafte Gedankenmuster trieben, um diesen dann zu widerstehen und zu lernen sie aushalten. „Das Problem soll sich dann lösen, weil ich ja sehe, dass gar nichts Schlimmes passiert. Aber mit einem Therapeuten neben mir ist das auch ein bisschen einfacher. Alleine ist das wieder anders“, erklärt Beckmann.

Antidepressiva sollen ihm helfen

Antidepressiva sollen seinen Zustand verbessern. Die Dosierung ist bei ihm drei Mal höher als bei Patienten mit Depressionen. 20 verschiedene Präparate probiert er innerhalb von drei Jahren aus, aber die gewünschte Wirkung bleibt fern und der 58-Jährige greift zum Alkohol. Eine halbe Flasche Cognac am Tag verschafft im Schnitt 30 Minuten Ruhe vor den Wiederholungszwängen.

Im Internet einen Text der Uniklinik Köln gefunden

Ständig hat Beckmann den Zwang sich hinzuknien. Am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, wird für ihn immer schwieriger. „Man isoliert sich zunehmend. Mein Zwang ließ es irgendwann nicht mehr zu, dass ich mich wusch. Der Zustand hielt acht Wochen an“, beschreibt Beckmann seine schwierige Zeit.

Ende 2002 sieht Beckmann im Internet einen Text der Uniklinik Köln in dem darauf hingewiesen wird, dass Teilnehmer an einer Studie zur Tiefen Hirnstimulation gesucht werden. Ein Verfahren, das ihm helfen soll. Ein Hoffnungsschimmer, der fast zu spät kommt. Im Februar 2003 hat Beckmann einen ersten Termin in der Klinik, ein gescheiterter Suizidversuch hätte die Teilnahme beinahe verhindert. „Durch den Zustand geriet ich in eine gefährliche Ecke hinein.“

Teilnahme an einer Studie

Nach einigem Abwägen und mit dem Rückhalt der eigenen Familie stand fest, dass er an der Studie teilnehmen möchte, die eine Operation am Gehirn erfordert. „Ich sagte mir, wenn ich das nicht mache, werde ich mich immer nach dem was wäre wenn fragen“, sagt Beckmann. Ein weiteres Jahr geht ins Land mit Gesprächen. Neurochirurgen untersuchen ihn, Psychiater ebenso. Beide geben ihr Einverständnis für den Eingriff. Dem Rentner werden in einem sechsstündigen Verfahren Mikroelektroden ins Gehirn eingeführt. Der Patient ist dabei wach, denn das Gehirn empfindet keinen Schmerz.

Der Stimulator kann in seiner Frequenz und Stärke eingestellt werden (unten links). Da er mit Hilfe eines Akkus funktioniert, muss dieser auch immer wieder aufgeladen werden. Dies geschieht durch Auflegen eines Apparates auf die Brust. 
Der Stimulator kann in seiner Frequenz und Stärke eingestellt werden (unten links). Da er mit Hilfe eines Akkus funktioniert, muss dieser auch immer wieder aufgeladen werden. Dies geschieht durch Auflegen eines Apparates auf die Brust.  © Kevin Kretzler

Operation

Der zweite Schritt erfolgt unter Vollnarkose: Die Implantation der Kabel und eines sogenannten Stimulators unter der Haut. Der Stimulator ist ein flaches, circa sechs Zentimeter kleines Gerät, das entweder unterhalb des Schlüsselbeins im Bereich der Brust oder des Bauchs implantiert werden kann. Über ein Kabel ist es mit den entsprechenden Elektroden im Gehirn verbunden. Der Stimulator ist durch die Haut programmierbar und sendet hochfrequentierte Stimulation in Kerngebiete des Gehirns.

Tiefe Hirnstimulation

Die Tiefe Hirnstimulation (THS) kommt nicht nur bei psychiatrischen Erkrankungen, sondern auch bei neurologischen Leiden zum Einsatz.

Etabliert hat sich THS zur Behandlung des Morbus Parkinson.

Bei etwa zwei Prozent der operierten Patienten kommt es durch Verletzung eines Gefäßes zu einer Gehirnblutung.

Je nach Stimulationsort und Elektrodenlage bzw. der verwendeten Spannung können durch die hochfrequente Stimulation Nebenwirkungen auftreten, wie Sprechstörungen, Gefühlsstörungen, Verkrampfungen oder Doppelbilder.

Dies soll zu einer Hemmung dieser Gebiete führen und damit zu einer Reduzierung der Wiederholungszwänge. Einige Tage nach der Operation wird der Stimulator erstmalig eingeschaltet. Die Anpassung der Parameter erfolgt langsam und über viele Tage hinweg. „Es braucht Zeit, bis alles richtig eingestellt ist. Bei mir dauerte es aber drei Jahre, um eine Wirkung zu bemerken. Aber dann hat sich alles massiv geändert“, erklärt Beckmann ruhig.

Symptome stark reduziert

Nebenwirkungen verspürt er nicht. Heute sind seine Symptome um 80 Prozent gelindert. Durch die Tiefe Hirnstimulation ist aber auch nur eine Behandlung der Symptome möglich. Es gibt keinen Einfluss auf die Erkrankungen. Daher ist der Effekt auch umkehrbar: nach dem Ausschalten des Stimulator stellt sich ein Zustand ein, wie er zu diesem Zeitpunkt ohne Stimulation wäre. Beckmann: „Nach ein bis zwei Tagen merke ich dann, wie ich nervös werde.“

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