Hallenberg. . Routinierteste Schauspieler gehen mit Lampenfieber ins Casting. Denn hier entscheidet sich, wer in der nächsten Saison welche Rolle spielt.
Die Situation erinnert an eine mündliche Prüfung, an ein Einstellungsgespräch. Vier Leute sitzen an einem Tisch und warten gespannt, was der Bewerber zu bieten hat. Die Kandidaten sind es eigentlich gewohnt, vor 1300 Leuten Theater zu spielen. Aber jetzt, vor dem kleinen Gremium, perlt bei dem einen oder anderen doch etwas Lampenfieber auf die Stirn. Schauplatz: Heimstudio der Freilichtbühne Hallenberg. Anlass: Casting für das neue Sommerstück. Heute Abend entscheidet sich, wer welche Rolle in „Kohlhiesels Töchtern“ spielen wird.
Mit komödiantischem Talent
„Ihr müsst mir etwas helfen, so ganz habe ich die Melodien noch nicht im Kopf.“ Bühnensprecher Georg Glade macht den Anfang. Er hat sich für die Rolle des Hausierers Seidenstock oder die des Pfarrers Moosbrunner beworben. Der an sich sehr ruhige und besonnene Georg Glade, der bei einer großen Firma die Abteilung Personalentwicklung und Ausbildung leitet, hat jede Menge komödiantisches Talent und dafür in den vergangenen Inszenierungen viele Lacher geerntet. Beide Rollen würden zu ihm passen. Wie alle anderen Mitbewerber hat auch er sich Noten, Texte und Playbacks aus einer Dropbox heruntergeladen, auf die alle potenziellen Mitspieler Zugriff hatten. Jeder, der sich für eine Rolle interessiert, hat sich gemeldet, downgeloaded und zu Hause geübt. Es gibt einen festen Zeitplan, wer wann an der Reihe ist. Die anderen warten in einem separaten Raum.
Viele wollen mitspielen, aber nur wenige große Rollen
Im Gegensatz zu großen Theaterhäusern, die das Ensemble aus finanziellen Gründen lieber klein halten, wollen in Hallenberg möglichst viele mitspielen. Aber das neue „Kohlhiesel“-Musical hat nur sieben größere Sprechrollen. Mal sehen, ob hier und da vielleicht noch eine kleine Figur oder Gruppierung hereingeschrieben werden kann. Aber jetzt geht es erstmal um die Glorreichen Sieben. „Ich erwarte, dass sich die Akteure auf das Casting vorbereiten. Niemand muss heute schon perfekt sein, aber wir wollen sehen, was in den Leuten steckt“, sagt Regissseur Florian Hinxlage. Er selbst ist ganz euphorisch und sitzt mit dem musikalischen Leiter Stefan Wurz, dem Spielleiter Stefan Pippel und Mareike Schäfer (zuständig für die Einstudierung der Chorgesänge) am Tisch, vor dem sich Georg Glade jetzt aufbaut.
Stefan Wurz schlägt die Tasten eines Keyboards an und unterstützt den Kandidaten gesanglich bei seiner Präsentation. Ein Auge auf dem Textblatt, mit dem anderen Blickkontakt zur Casting-Jury legt Glade los. „Das war schon sehr gut. Jetzt stell Dir vor, Du bist nicht der kleine Pfarrer Moosbrunner, sondern ein Kardinal. Der Papst ist mit hier, der ganze Petersdom ist voll und Du singst jetzt dieses Lied.“ Die Anweisungen von Flo Hinxlage helfen dem Spieler. Er öffnet sich, holt mit den Armen weit aus, betont die Vokale überdeutlich und verleiht dem Text-Inhalt noch mehr Bedeutung. „Ja, das ist es!“ So geht das den ganzen Abend. Jeder Spieler hat gute 20 Minuten Zeit, um sich zu präsentieren. Die Jury macht sich Notizen und beratschlagt später, wenn der Spieler (und der Reporter) vor der Tür sind.
Kratzbürstige Bauerntochter
Der Nächste, bitte! „Liesel hier, Liesel da, Liesel überall!“ Franziska Mause soll das Lied der kratzbürstigen Bauerstochter so richtig rotzig interpretieren. „Vergiss mal für einen Moment, dass der Song eine Melodie hat. Du sollst es mehr spielen und wütend brüllen als singen“, rät Stefan Wurz. Und es ist erstaunlich, wie Franzi – sie spielte in der vergangenen Saison die Eliza Doolittle – ganz andere Saiten in sich zum Klingen bringt. Franzi gesteht: „Boah, ich bin mega nervös“. Aber sie ist mit Abstand am perfektesten vorbereitet. Ein verheißungsvolles Strahlen huscht nach ihrem Auftritt über das Gesicht von Flo Hinxlage. Wenn die keine große Rolle abkriegt…
Auf die Tipps einlassen
Bis spät in den Abend wird gecastet. Es ist erstaunlich, wie schnell manche Akteure die Anfangsnervosität ablegen und sich auf Tipps und Regieanweisungen einlassen. Am nächsten Morgen wird das Casting fortgesetzt. Ging es am Abend ums Singen, steht am nächsten Tag körperliche Präsenz auf dem Plan. Szenen werden gespielt, kleine Choreographien eingeübt. Sehr schnell sieht und spürt man, wer sich sicher in einer anderen Rolle auf Bühnenbrettern bewegt. Am Abend steht dann fest, wer welchen Part übernehmen wird.
Georg Glade ist nicht dabei. Traurig? „Nein, das ist halt so. Ich gönne meinen Mitspielern die Rollen. Deshalb hegt man keinen Groll. Vielleicht ergibt sich ja noch eine andere Möglichkeit.“ Dem Regisseur fällt da bestimmt noch etwas ein...
„Extra eine Lederhose gekauft!“
„Und dabei habe ich mir extra eine neue Lederhose gekauft!“ Die knapp 40 Männer und Frauen im Heimstudio lachen, als einer von ihnen den Satz in die Rund wirft. Sie alle sind gekommen, um einen ersten Eindruck von „Kohlhiesels Töchtern“ zu bekommen. Das Stück wird im nächsten Jahr auf der Freilichtbühne gespielt und ist als neu geschriebenes Musical eine Welturaufführung – und die gibt es in Hallenberg zu sehen.
Zum Auftakt des Casting-Wochenendes hat Regisseur Florian Hinxlage erklärt, dass das Musical nicht in Bayern spielt und daher auch nicht lederhosenpflichtig sein wird. „Es kann überall spielen. Aber ich verrate noch nicht wo. Ich bin total nervös und gespannt. Lasst uns ein cooles Wochenende haben“, hatte Hinxlage die Akteure im Heimstudio begrüßt und deutlich gemacht: eine Welturaufführung ist schon etwas ganz Besonderes. „Das Stück liegt noch in Berlin; es wird ständig weiter entwickelt und wir haben die Möglichkeit, dass hier und da vielleicht noch ein Lied hinzukommt oder eine Szene ausgeweitet wird.“
Musikalische Einstimmung auf ein neues Stück
Zur Einstimmung hat der musikalische Leiter Stefan Wurz ein Lied aus dem Musical mitgebracht: „Alles Glück der Erde“. Der Musik-Profi macht deutlich, dass das Stück mit zweimal 45 Minuten deutlich kürzer als „My Fair Lady“ sein wird. „Wir müssen daher diesmal nichts streichen.“ Die Playbacks werden in Tschechien eingespielt, Wurz wird sie orchestrieren. Hier und da soll es Versionen in anderen Tonarten geben, damit auch Laien den Tonumfang problemlos schaffen.
Einmal vorspielen, einmal reinhören. Das Ensemble sing zum ersten Mal mit. Sehr eingängig, sehr melodiös. An ein zwei Stellen geben die Noten eine Melodieführung nach unten vor, aber der Chor verirrt sich nach oben. Aber beim zweiten Mal vorspielen ist die falsche Stelle ausgemerzt. Schon jetzt achtet Wurz darauf, dass das Wort „Geborgenheit“ in der Schlusszeile des Liedes auch synchron endet. „Was wir jetzt am Anfang schon richtig machen, müssen wir später nicht mehr korrigieren.“
Später – das ist am 16. Juni, wenn das Stück Premiere hat. Aber nicht umsonst, sind die Rollen diesmal sehr früh vergeben worden. Es gibt viel zu tun. Hinxlage zu seinem Ensemble: „Und wir nutzen das Beste, das wir haben – nämlich Euch!“
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