Arnsberg/Winterberg. Der Prozess gegen die Mutter aus Raum Winterberg, die sich wegen des Hungertodes ihre Kleinkinds verantworten muss, dauert länger als vorgesehen.
- In dem Verfahren waren ursprünglich nur vier Verhandlungstage vorgesehen
- Es gab aber intensive Zeugenvernehmungen, neue Blickwinkel und viele Facetten
- Am Dienstag reist die Mitarbeiterin des Jugendamtes aus dem Vogtlandkreis als Zeugin an
Wie kann es passieren, dass im Februar 2014 ein Junge (2) im Raum Winterberg bis auf die Knochen abmagert und verhungert? Dass seine neun Monate alte Schwester unterernährt ins Krankenhaus kommt und durch die Kunst der Medizin gerettet wird? Welche Rolle spielt die zehnfache Mutter (40)? War sie maßlos überfordert, hat Warnzeichen übersehen oder gar ignoriert? Wo war der Vater? Es sind viele Fragen, die das Schwurgericht Arnsberg seit dem 8. September zu klären versucht. Am 24. Oktober wird der Prozess fortgesetzt.
Intensive Zeugenvernehmungen, neue Blickwinkel, viele Facetten
Es waren nur vier Verhandlungstage vorgesehen. Doch es gab intensive Zeugenvernehmungen, neue Blickwinkel, viele Facetten. Gleich zu Anfang hatte Verteidiger Stephan Lucas aus München in Richtung einiger Zeugen bemängelt, dass „zu viele Schlüsse gezogen und zu wenig Fakten“ benannt würden. In der Tat ist die Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung nicht von der Hand zu weisen: eine Mutter, der ein Kind unter der Hand verhungert – das weckt Emotionen. „Wir müssen die Umstände berücksichtigen. Es stimmt nicht, dass es meiner Mandantin egal gewesen ist, wie es ihren Kindern geht“, sagte Lucas. Er hat an zahlreichen Großprozessen teilgenommen u.a. am Strafverfahren gegen die Ex-RAF-Terroristin Verena Becker wegen der Ermordung des damaligen Bundesanwalts Buback, als Nebenkläger im NSU-Prozess und am Verfahren um den Amoklauf in Winnenden. Lucas geht es vor allem darum, den gegen seine Mandantin gerichteten Vorwurf des Vorsatzes auszuräumen.
Staatsanwalt zum dritten Mal mit dem Fall befasst
Staatsanwalt Klaus Neulken ist schon zum dritten Mal in einem Prozess mit diesem Fall befasst. Im Januar 2016 saß die heute 40-jährige Mutter zunächst beim Amtsgericht Medebach auf der Anklagebank. Von dort wurde das Verfahren nach Arnsberg abgegeben, weil eben jener Vorsatz nicht auszuschließen war und wegen des möglicherweise dafür zu erwartenden Strafmaßes das Landgericht zuständig ist. Im Frühjahr 2017 wurde eine Jugendamtsmitarbeiterin des HSK verurteilt, weil sie nach Ansicht des Gerichtes die Großfamilie nicht ausreichend betreut hatte.
Berufung im Fall der Jugendamtsmitarbeiterin
Ihr Verteidiger Thomas Mörsberger, der den Prozess jetzt in Arnsberg verfolgt, hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, weil die Frau seiner Meinung nach strafrechtlich keinen Fehler gemacht habe. Auch der Staatsanwalt ist in Berufung gegangen, weil das Strafmaß mit sechs Monaten Haft auf Bewährung seiner Ansicht nach zu gering ausgefallen sei. Einen Termin für das Berufungsverfahren gibt es nicht.
Erstmals ist der Vater von neun der zehn Kinder zu Wort gekommen
Erstmals in dem Komplex ist der Vater von neun der zehn Kinder zu Wort gekommen. Er tritt als Nebenkläger auf und wird von Rechtsanwalt Oliver Brock aus Brilon vertreten. Die Mutter wirft ihrem Ex-Lebensgefährten aus Bremen (50) Gewalt in der Familie vor – gegenüber ihr und den Kindern. Ein Verfahren vor dem Briloner Amtsgericht ist noch anhängig. Er behauptet, die Mutter seiner neun Kinder sei manipulativ, berechnend und gehe über Leichen. Ob und inwieweit auch er strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist – er hat die Familie nach dem Umzug ins Sauerland regelmäßig besucht und die Kinder gesehen – steht auf einem anderen Blatt.
Mitarbeiterin des Jugendamtes aus dem Vogtlandkreis als Zeugin
Am Dienstag (24. Oktober) reist zum wiederholten Male die Mitarbeiterin des Jugendamtes aus dem Vogtlandkreis als Zeugin an. Dort hatte die Familie – nach diversen Wohnungswechseln zuvor – zuletzt gelebt. In der Urteilsbegründung gegen die HSK-Sozialarbeiterin kommt das Amtsgericht Medebach zum Schluss, dass der Vogtlandkreis im Gegensatz zum HSK die Situation ernst genommen und engmaschige Kontrollen durchgeführt habe. In der Urteilsbegründung aus Medebach heißt es: Erschreckend sei die Aussage des Jugendamtsleiters, man werde auch heute, nach den Erfahrungen mit der Familie, einen solchen Fall nicht anders behandeln.
Überraschenderweise ist für morgen auch noch die Mitarbeiterin des HSK-Jugendamtes als Zeugin geladen. Sie hat allerdings ein Aussageverweigerungsrecht, weil in ihrem Fall noch das Berufungsverfahren aussteht. Sie muss daher nicht auf alle Fragen antworten, um sich nicht selbst zu belasten. Außerdem hat die Kammer unter Vorsitz von Richterin Dorina Henkel für die weiteren Verhandlungstage im November die vier ältesten Kinder als Zeugen geladen.
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