Medebach. . Seit unglaublichen 164 Jahren baut immer die Familie Reuther aus Medebach das wichtigste Utensil jedes Schützenfestes, den Schützenvogel.

  • Arbeitsstunden nicht zu zählen
  • Ein Vogel war schon bei der Steubenparade
  • Immer ein Ersatzexemplar in petto

Dass eine Familie fast ein Drittel des gesamten Vereinsbestehens lang eine bestimmte Aufgabe übernimmt, ist auf jeden Fall löblich. Einzigartig wird es jedoch, wenn man erfährt, wie alt dieser Verein schon ist: Seit genau 529 Jahren gibt es die St. Sebastianus-Schützenbruderschaft in Medebach. Und seit unglaublichen 164 Jahren baut immer die Familie Reuther aus Medebach das wichtigste Utensil jedes Schützenfestes: den Schützenvogel. Mittlerweile sind Alfons und Dennis Reuther in sechster und siebter Generation dafür verantwortlich.

An der Wand hängt ein Foto, auf dem Sohn Dennis als Kleinkind beim Opa Willi auf der Werkbank sitzt und beim Vogelbau zuguckt. Mittlerweile ist der 22-Jährige dafür zuständig, den von Alfons Reuther aus Fichtenholz fertig gebauten Vogel nach traditionellen Vorgaben zu bemalen: Flügel und Rumpf schwarz, Kopf und Beine rot, die Insignien in Gold, die zahllosen Federn zeichnet er zum Schluss ganz filigran mit weißer Farbe auf.

Immer einen Ersatzvogel in petto

Wer den imposanten Schützenvogel mit seinen 1,40 Meter Flügelspannweite und vielen liebevollen Details sieht, stellt sich sofort die naheliegende Frage: „Wie viele Stunden Arbeit stecken in jedem Vogel?“ Darauf kann Alfons Reuther auch nach längerem Nachdenken keine genaue Antwort geben. „Die Stunden kann man nicht zählen.“ Denn seine Vögel entstehen nicht an einem Stück, sondern wachsen nach und nach. Das ganze Jahr über baut der 52-jährige immer mal wieder ein Einzelteil. Alleine die Krone ist schon ein kleines Kunstwerk. Früher wurde sie aus dem Blech von in Streifen geschnittenen Fischdosen angefertigt, heute besteht sie aus Holz und goldlackierten Paketbändern.

Und die nächste Frage: „Tut es nicht in der Seele weh, wenn so eine aufwändige Arbeit innerhalb von kurzer Zeit kaputtgeschossen wird?“ Kein Problem, versichert Alfons Reuther, das sei ja schließlich der Sinn. Er fiebert nur jedes Mal mit, ob sein Werk auch genügend Schüsse aushält. Zwischen 100 bis 200 Mal wird meistens angelegt, bevor der Vogel fällt. Aber letztlich ist alles möglich. Es kam vor Jahren auch schon vor, dass beim 5. Schuss die Befestigungsstange brach und der Vogel komplett fiel.

Wenn man die Kriegs- und Nachkriegszeiten, in denen nicht gefeiert wurde, ausklammert, kommt man seit 1852 auf rund 150 Schützenfeste. Das bedeutet 150 Schützenvögel. Oder mehr? Ja, denn viele ehemalige Schützenkönige wollen eine kleine Version als Andenken haben. Die Reuthers haben außerdem immer mindestens einen Ersatzvogel in petto, falls einer kaputt gehen sollte. Oder geklaut wird! Denn einige Spaßvögel hatten ihren hölzernen Kollegen vor 30 Jahren in der Nacht von Freitag auf Samstag aus dem Kugelfang verschleppt. Das Vogelschießen fand dank der Reserve trotzdem statt. Das Diebesgut wurde später im benachbarten Münden gefunden, vom dortigen Schützenverein restauriert und zum 525. Jubiläum feierlich zurückgegeben. Die Wiedersehensfreude währte jedoch nicht lang, eine halbe Stunde später war das gute Stück wieder verschwunden und steht jetzt wie von Geisterhand herbeigezaubert jeden Schützenfestsonntag für kurze Zeit am Festzug.

Auch schon in der Tagesschau

Die Schützenvögel aus der Reutherschen Werkstatt sind nicht nur in Medebach bekannt. Ein Exemplar hängt im Sauerlandmuseum Arnsberg. Zwei waren bereits im Bundestag: Einer 1992 zum Vogelschießen der Abgeordneten. Der zweite schaffte es sogar zur besten Sendezeit in die Tagesschau, als Politiker vor gut drei Jahren den Schützenvogelumfang auf acht Zentimeter reduzieren wollten. Die Schützen beendeten die emotionale Debatte ganz pragmatisch, indem Alfons Reuther einen „normalen“ und einen Winz-Vogel als Vergleich baute und den Verantwortlichen in Berlin vorsetzte. Und sogar bei der Steubenparade in den USA war bereits ein Medebacher Vogel dabei.

Seit diesem Jahr ist Frank Brocke aus Dreislar mit im Boot. Er fertigt in seiner Drechslerei an Präzisionsmaschinen nun die runden Teile an, die bisher in unzähligen Arbeitsstunden per Hand auf Opas alter Drechselbank entstanden, Alfons und Dennis Reuther vollenden das Werk dann wie gehabt. Damit auch alles im Verein bleibt, ist Frank Brocke direkt in die Schützenbruderschaft eingetreten.

Bei genauem Hingucken sieht man im Regal ein paar Flügel. Auch einige kräftige Vogelbollen liegen bereits auf der Werkbank. Der Schützenvogel für 2017. Die jahrhunderte alte Tradition in Medebach hat greifbare Zukunft.

Auch der Geck kommt seit 1852 aus dem Hause Reuther. Er wird sonntags traditionell von den Jungschützen geschossen. Der erfolgreichste Jungschütze heißt somit in Medebach „Geckkönig“ und ist nicht – wie in vielen anderen Orten üblich - der Vizekönig.