Kairo. Marcel Koller arbeitet seit zwei Jahren in der ägyptischen Hauptstadt in Kairo bei Al Ahly. Unseren Redakteur empfing er zum Interview in seiner neuen Heimat.
Pünktlich zum Ende des Gesprächs mit Marcel Koller ertönt ein Gong in der Lobby seines Hotels an der Südspitze der Nil-Insel Gezira in Kairo. „Das ist jeden Abend so“, erzählt der Schweizer Trainer. In einer Lichter-Zeremonie läuten die Angestellten den Abend in der ägyptischen Hauptstadt ein, schmücken mit Kerzen den offenen Raum. Ab jetzt beginnt das bunte Treiben. Für Koller hingegen ist es das Zeichen, zurück an die Arbeit zu gehen. Videostudium, das nächste Spiel mit seinem aktuellen Team Al Ahly, dem größten Klub auf dem afrikanischen Kontinent, ist nicht mehr weit weg. Zuvor aber nahm er sich die Zeit für ein Gespräch über fremde Kulturen, Umgang mit jungen Spielern und seine Zeit beim VfL Bochum.
Herr Koller, seit etwas mehr als zwei Jahren sind Sie als Trainer in Kairo tätig. Fühlen Sie sich in dieser verrückten und chaotischen Stadt bereits heimisch?
Marcel Koller: Ich lerne jeden Tag dazu es ist natürlich auch wichtig, wenn man in einem anderen Land arbeitet, dass man sich auch darauf einlässt. Es ist hier definitiv nicht wie in Europa, in Afrika läuft das Leben ein wenig anders. Daran musste ich mich am Anfang auch gewöhnen. Aber das ist das Spannende an diesem Job bei Al Ahly. Ich muss hier andere Wege gehen, Dinge anders machen, als früher. Wir müssen uns an die Kultur gewöhnen, und die Menschen hier gewöhnen sich aber auch an mich und meine Kollegen. Natürlich habe ich klare Prinzipien – was den Sport angeht. Es hat etwas gedauert, bis alle Spieler immer pünktlich beim Training erschienen sind. Ich musste einigen Spielern erst beibringen, dass es darum geht, etwas gemeinsam zu kreieren, um erfolgreich sein können. Daher ist es wichtig, Ruhe zu bewahren.
Wie müssen wir uns das vorstellen, als bei Familie Koller das Angebot von Al Ahly diskutiert wurde?
Ich hatte lange Zeit davor schon einmal mit meinem Berater darüber gesprochen, dass die arabische Welt mich reizen würde. Es musste aber der richtige Zeitpunkt dafür kommen – der war lange nicht gegeben. Ich wollte immer in Deutschland sein, durfte in Österreich als Nationaltrainer arbeiten. Ich bin fußballverrückt und wollte da sein, wo das Herz dieses Sports schlägt. Auch eine Nationalmannschaft hätte mich noch einmal gereizt. Aufgrund einer Knieoperation habe ich eine längere Zeit keinen Job annehmen können. Dann ging das Angebot von Al Ahly ein und ich habe angefangen, mich über den Klub zu informieren. Kairo als Stadt kannte ich zudem schon von einer Nationalmannschaftsreise 1988. Damals hatten wir uns auch die Pyramiden angeguckt. Ich habe Videos gesehen, wie 60.000 Fans im Stadion vollkommen ekstatisch sind. Da war für mich klar: hier wird der Fußball gelebt und geliebt, hier könnte ich mich wohlfühlen. Auch wenn leider seit einem tragischen Ereignis mit 72 Toten bei einem Fußballspiel und nach dem arabischen Frühling die Zuschauerplätze begrenzt warden, wurde ich bislang nicht enttäuscht. Der Präsident und der Vorstand haben zudem stark um mich gekämpft, ich durfte auch meine Trainer fürs Team mitbringen.
Hat Sie dennoch jemand für verrückt erklärt? Oft heißt es, wenn Trainer ins außereuropäische Ausland gehen, sei die Karriere vorbei.
Nein! Dem möchte ich auch vehement widersprechen. Wir sind mit Al Ahly in allen relevanten Wettbewerben dabei. Wir sind der größte Klub in Afrika, haben die Champions League gewonnen, haben beim Fifa-Interkontinental-Pokal mitgespielt und nehmen nächstes Jahr im Sommer auch an der Klub-WM teil. Wir messen uns also unter anderem mit den besten Klubs Afrikas, aber auch mit beispielsweise Real Madrid. Sportlich ist es hier nicht minder herausfordernd als in Europa. Hinzu kommt eben die kulturelle Erfahrung, die ich hier sammeln kann. Ich wusste aus Bochumer Zeiten zwar, wie Anthar Yahia mit dem Ramadan umgeht. Wenn hier aber alle Spieler tagsüber nicht essen und trinken, muss ich als Trainer damit anders umgehen. Hier wird generell eher abends trainiert, weil es tagsüber oft zu warm ist. Auch darauf musste ich mich einstellen.
Gab es für Sie einen Moment, in dem Sie Ihr Abenteuer Ägypten dennoch gern beendet hätten?
Das nicht. Aber gerade zu Beginn wird einem klar, dass es eine andere Realität ist. Sie haben den Verkehr hier erlebt – es ist verrückt. Das kennt man aus Europa nicht, wo alles geordnet abläuft. Aber bezüglich der Arbeit muss ich sagen, dass ich hier durchaus gute Bedingungen vorfinde, wenngleich man es mit den ganz großen Klubs in Europa nicht vergleichen kann. Das fängt schon beim Trainingsgelände an, wo uns zum Beispiel nur ein Rasenplatz zu Verfügung steht. Nichtsdestotrotz arbeite ich gern hier.
Marcel Koller: Darum lebe ich in Kairo in einem Hotel
Sie wohnen in Kairo in einem Hotel. Warum?
Ganz einfach: Ich bin hier, um zu arbeiten und den Klub zu Erfolgen zu führen. Das Hotel ist in der Nähe unseres Trainingsgeländes und natürlich genieße ich auch die Annehmlichkeiten, wenn man in einem Hotel lebt. Ich bin allein hier in Kairo, mein Frau kommt ab und an zu Besuch. Ich muss mich um nichts kümmern – was ehrlich gesagt in Ägypten auch etwas anderes ist, als zu Hause. Außerdem reisen wir hier viel und weit. Für ein Auswärtsspiel in der Champions League in Südafrika sind wir zum Beispiel eine Strecke neun Stunden geflogen. Wofür brauche ich dann eine eigene Wohnung, wenn ich ohnehin selten zu Hause bin? Die wenige Zeit, die ich dann habe, die möchte ich dann nicht im Auto in einem Stau verbringen. Daher geht es mir hier im Hotel sehr gut. Am Anfang meiner Zeit hier, habe ich woanders gelebt. Dafür habe ich auch jeden Tag mehrere Stunden im Stau gestanden. Und was ehrlich gesagt auch ein Punkt ist: Hier erkennt mich fast jeder auf der Straße und möchte ein Foto mit mir. Wenn ich unter Menschen möchte, dann gehe ich raus oder setze mich hier irgendwo hin.
Am Abend vor dem Interview spielte Al Ahly in der afrikanischen Champions League im großen Nationalstadion. Aufgrund der Beteiligung der Ultras des Vereins am arabischen Frühling (2010-2012), als diese in erster Linie gegen das Militär kämpften, beschränkt die Regierung die Zuschauerzahlen massiv. Dennoch wurde an diesem Abend deutlich, was der Klub für eine Bedeutung für die Menschen in Kairo hat und wie beliebt die Spieler und Trainer Koller sind. Auch eine Stunde nach dem Spiel stehen viele Fans vor der Ausfahrt und warten auf ihre Idole, wollen nur einen kurzen Blick erhaschen. Schnell wird deutlich, warum Koller die Wege nur im Auto bestreitet.
Sie haben die Arbeitsbedingungen angesprochen. Verzweifeln Sie nicht daran?
Mit Mitteleuropa ist das nicht zu vergleichen, keine Frage. Wir haben hier keine vier, fünf, sechs Trainingsplätze. Selbst beim VfL Bochum hatten wir damals schon drei Plätze zu Verfügung. Hier mit nur einem Platz zu arbeiten, ist herausfordernd. Aber die Bedingungen sind hier einfach andere. Wir haben viele Wochen im Jahr über 40 Grad – da ist es schwierig, Rasenplätze zu unterhalten. Daher ist der Rasen auch anders, härter und widerstandsfähiger als in Europa, fast wie ein Teppich. Noch mal: Es ist ein anderes Arbeiten. Aber ich mache es sehr gern. Diese Erfahrung hilft mir für andere Dinge.
Sehen wir Sie denn noch einmal in Europa – vielleicht sogar in Deutschland – an der Seitenlinie?
Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich besitze hier einen gültigen Vertrag und fühle mich wohl. Ich weiß aber, dass unser Geschäft extrem schnelllebig ist. Drei, vier Pleiten – und die Stimmung kippt. Das ist überall so. Das ist auch bei Al Ahly nicht anders. Ich habe aber immer recht lange Halbwertzeiten als Trainer gehabt. Ich habe kürzlich noch eine Statistik gesehen, dass in der Bundesliga Trainer nicht einmal neun Monate im Schnitt bleiben – das ist nicht richtig. Das ist zu extrem. Vor allem, weil man als Trainer auch Zeit braucht, um Dinge zu entwickeln.
Hat das aus Ihrer Sicht auch mit der Entwicklung auf dem Trainermarkt zu tun, dass wir eine Zeit hatten, in der Trainer immer jünger wurden?
Diese Entwicklung gab es sicher. Ob das jetzt gut oder schlecht war, möchte ich nicht beurteilen. Was ich sagen kann: Trainer mit Erfahrung haben durchaus ihre Vorteile. Man ist rumgekommen, ist weniger hektisch, hat schon viele Situationen mitgemacht. Sehen Sie sich den VfL Bochum an: Die haben mit Dieter Hecking einen erfahrenen Trainer geholt, der aus meiner Sicht in der aktuellen Situation gut past. Junge Trainer lassen sich manchmal zu schnell beeinflussen, weil bei Fußballklubs auch immer mehr Leute mitreden. Ein erfahrener Trainer lässt das vielleicht eher an sich abprallen. Wenn diese Entscheidungen dann falsch sind, dann muss ich zwar auch gehen, aber ich bin meinen Prinzipien treu geblieben.
Holen sich junge Trainer oder solche, die es werden wollen, auch Mal Rat bei Ihnen?
Der eine oder andere ruft schon mal an und anhand des Gesprächverlaufs merkt man schnell, auf was sie hinauswollen. Austausch ist in diesem Job ungemein wichtig, weil man nur so Dinge lernen kann. Ich bin heute auch ein anderer Trainer als vor zehn Jahren. Der Austausch ist übrigens auch mit den Spielern wichtiger geworden. Früher, als ich Spieler war, hat der Trainer mit uns selten gesprochen. Heute steht meine Tür den Spielern immer offen. Wichtig ist aber, dass die Spieler wissen, dass sie mit ihrem Job auch ein Privileg haben und alles dafür tun sollten. Wenn sie nicht spielen, hat das schon Gründe. Dann brauchen die nicht jeden Tag bei mir im Büro stehen und darüber diskutieren. Dann sage ich auch deutlich, dass sie mehr Leistung im Training bringen müssen. So hart muss man dann auch sein. Ich selbst zum Beispiel hatte mit 19 Jahren meine erste schwere Verletzung. Damals musste ich mich selbst um alles kümmern, mit Physios trainieren. Diesen Ehrgeiz möchte ich auch von meinen Spielern sehen. Sie müssen beißen und geduldig sein.
Ist die junge Spielergeneration zu verwöhnt?
Schwierige Frage. Es gibt Spieler, die sind extrem talentiert und schmeißen sich voll rein. Dann gibt es aber auch welche, die ihr Potenzial nie abrufen, weil sie untätig sind. Oder welche, die sich alles mit Willen erarbeiten. Hier in Ägypten gibt es die Vielzahl von Jugendleistungszentren nicht, dafür sind die jungen Spieler kulturellbedingt sehr überzeugt von sich. Wichtig ist immer, dass jeder Spieler – auch im Jugendbereich -, immer die Wahrheit gesagt bekommt. Ich will von jedem sehen, dass er alles gibt.
Marcel Koller lebt dies vor. Er selbst war am Abend vor dem Gespräch der letzte, der das Stadion verließ, gab noch ausführlich Auskunft vor den Medien, die das Champions-League-Spiel gegen Stade d‘Abidjan aus der Elfenbeinküste begleiteten. Diese Arbeitseinstellung lässt ihn offenbar gut ankommen. Spricht man mit seinen Mitarbeitern und ehemaligen Spielern über Koller, schwärmen die von dessen Art. Aber was denkt der „Coach“, wie er in seinem Hotel nur genannt wird, über ehemalige Spieler?
Sie haben in Ihrer Karriere schon viele Spieler trainiert. Ist Ihnen jemand besonders in Erinnerung geblieben?
Na klar, da sind Spieler wie Marcel Maltritz oder Stanislav Sestak. Aber vor allem Theofanis Gekas. Wir hatten damals einen schnellen Stürmer gesucht und ihn gefunden. Er hatte vielleicht 15 Ballkontakte im Spiel, aber fast immer getroffen. Er stand einfach richtig, er hatte diesen oft gesuchten Torriecher. Ich erinnere mich noch wie ein Spieler – den Namen nenne ich nicht – mal zu mir kam, als Gekas eine kleine Torflaute hatte, und meinte, Gekas müsse mehr nach hinten arbeiten. Dann habe ich ihm gesagt, dass wir dann Gefahr laufen, einen Elfmeter gegen uns zu bekommen, wenn der Gekas bei uns im Strafraum rumrennt. Er war unsere Lebensversicherung und ich habe ihn natürlich weiter vorn gelassen. Ich habe dem Spieler gesagt, dass dann jeder ein bisschen mehr machen muss, Gekas bald wieder treffen würde. Und was hat er gemacht? Er hat im nächsten Spiel wieder getroffen.
Marcel Koller: VfL Bochum hat immer aus wenig viel gemacht
Damals wie heute war der VfL Bochum so etwas wie das gallische Dorf im Bundesliga-Fußball.
Ja, das ist schon ein kleinwenig wie in einer Zeitreise – zumindest im Vergleich mit dem BVB direkt nebenan. Aber das macht den VfL Bochum aus! Es war immer richtig geile Stimmung im Ruhrstadion und in diesem Stadion, vor diesen Fans, konnte fast jeder Gegner geschlagen werden. Wir haben Schalke und den BVB geschlagen – da war was los. Für die Fans war es wie Weihnachten, sie konnten auf Arbeit ihre Kollegen dann aufziehen. Das zeigt: Oft ist es egal, wie ein Klubs aufgestellt ist. Entscheidend ist die Leistung der Mannschaft. Das war damals schon so und das ist noch heute so. Und soll ich Ihnen was sagen?
Bitte.
Mit Werner Altegoer hatte ich beim VfL Bochum einen Präsidenten der in meiner Karriere eine prägende Rolle gespielt hat. Wir haben uns viel ausgetauscht, er war eine echte Persönlichkeit. Er kannte sich auch im Fußball aus und wusste, wie man es taktisch angehen muss. Es waren sehr gute Gespräche.
Seitdem hat sich zwar das Personal verändert, der VfL Bochum ist aber immer noch im Vergleich zu anderen Bundesliga-Klubs ein kleiner Verein.
In Bochum musste schon immer aus wenig viel gemacht werden. Wir hatten damals einen Etat von rund 49 Millionen Euro – im Schnitt hatten die anderen Klubs gut 90 Millionen Euro. Das war schon damals ein großer Unterschied. Aber wir haben aus unseren Mitteln das Maximum herausgeholt. Ähnlich muss es der VfL Bochum auch derzeit tun. Wir haben damals den Klassenerhalt geschafft – und ich traue dem VfL auch zu, dass er in dieser Saison noch schafft.
War die Zeit in Bochum die für Sie beste der Karriere?
Ich habe bei großartigen Klubs arbeiten dürfen. Beim 1. FC Köln war alles groß, das Stadion war neu – aber auch der Druck war ein anderer. Beim FC St Gallen, es war meine zweite Trainerstation und ich bin dort überraschend im Jahr 2000 zum letzten Mal Meister geworden. Zwei Jahre später bin ich zu den Grasshoppers Zürich gewechselt, wo ich selbst 24 Jahre lang gespielt habe. Auch dort ist es uns gelungen, Meister zu werden – es war die bislang letzte Meisterschaft in der Vereinsgeschichte. Das war eine sehr besondere Zeit, es war großartig. Auch in Bochum habe ich mich sehr wohlgefühlt. Ich habe bis heute Kontakt zu Menschen aus dieser Zeit. Es war definitive eine prägende Zeit in meiner Karriere. Das gilt aber auch für die Arbeit als österreichischer Nationaltrainer. Damals habe ich aber auch festgestellt, dass ich gern täglich mit Spielern zusammenarbeite, weil ich ganz andere Themen bearbeiten kann.
Wenn Sie als Trainer einen Wunsch frei hätten: Welchen Klub, welches Nationalteam würden Sie gern noch einmal trainieren?
So habe ich nie gedacht. Ich übe meinen Beruf mit sehr viel Leidenschaft aus und wenn jemand Interesse an mir hat, dann höre ich mir das immer an. Mir ist wichtig, dass ein Engagement für beide Seiten passt. Deshalb habe ich auch nie von einem speziellen Klub geträumt. Ich sehe mich aber schon immer in einer ersten Liga.