Essen. Traditionsklub gegen Kommerz: Die Unterschiede zwischen den DFB-Pokal-Gegnern Rot-Weiss Essen und RB Leipzig sind gewaltig.
Rouven Schröder weiß, wovon er spricht, er ist geboren im Sauerland, hat lange im Ruhrgebiet gespielt: „Hafenstraße ist immer emotional – wir dürfen uns auf ein hitziges Spiel einstellen“, kündigt er an. „Auf den Rängen wird es laut werden. Also: Da kommt ein richtiger Härtetest auf uns zu.“ Dreimal trat Schröder in Regionalligaspielen als Gast bei Rot-Weiss Essen an, einmal mit dem VfB Lübeck, zweimal mit der zweiten Mannschaft des VfL Bochum, er erlebte einen Sieg, ein Unentschieden und eine Niederlage. Über 15 Jahre ist die jüngste dieser Begegnungen her, seitdem ist viel passiert: Rot-Weiss spielt in einem neuen, aber nicht weniger stimmungsvollen Stadion, hat die Niederungen der Regionalliga endlich verlassen. Und auch Schröder ist aufgestiegen, anders als zu Profizeiten mischt er ganz oben mit im deutschen Profifußball: als Sportdirektor des Champions-League-Teilnehmers RB Leipzig. Und an diesem Wochenende hat er gute Chancen, seine Hafenstraßen-Bilanz ein wenig aufzupolieren, denn am Samstag (15.30 Uhr/Sky) gastiert Leipzig bei Rot-Weiss – und ist natürlich der klare Favorit in dieser Auftaktrunde des DFB-Pokals.
Aber klare Ausgangslagen hat man schon viele erlebt im DFB-Pokal, klare Favoritensiege erwachsen daraus längst nicht immer. Auch an der Hafenstraße gab es schon die eine oder andere Überraschung, 2021 wurde Bayer Leverkusen aus dem Wettbewerb gekegelt. „Wenn du da um die Ecke biegst, die erste Trinkhalle siehst und dir was entgegenkommt – da kann schon was passieren”, warnt Schröder. „Das ist ein Traditionsverein, der eine richtig große Fanbase hat.” Ausverkauft wird das Stadion dennoch nicht sein – weil der Gast aus Leipzig über 1000 Plätze im Gästeblock nicht verkauft bekam.
RWE verschwand in der Fünftklassigkeit – aber die Fans waren immer da
Es braucht fast nicht mehr als diese eine Information, um dieses Duell der größtmöglichen Gegensätze zu illustrieren: Denn in Essen kommt am Samstag ja nicht nur das ewig junge Pokalthema David gegen Goliath zur Aufführung, nein: Es ist auch das Duell zwischen Tradition und Kommerz, zwischen dem Deutschen Meister von 1955, der sich müht, auf die ganz große Bühne Profifußball zurückzukehren, und dem mit Millionen aufgepumpten Marketingkonstrukt aus Leipzig, das es nur gibt, weil ein milliardenschwerer Getränkekonzern aus Österreich seine Marke bewerben will, der die 50+1-Regel, nach der die Mitglieder in deutschen Profiklubs das Sagen haben, so weit dehnt, das sogar das Kartellamt Bedenken hat.
Schwer vorstellbar, dass die Essener in einem DFB-Pokalspiel tausend Plätze unbesetzt ließen. Der Klub war verschwunden aus dem Profifußball, fristete 14 Jahre eine Existenz als Viert- oder gar Fünftligist, war 2010 insolvent. Erst vor zwei Jahren gelang der Aufstieg in die 3. Liga. Nur die Fans, die waren immer da, 16.652 kamen im Schnitt in der vergangenen Drittligasaison – in der RWE sogar lange vom Aufstieg in die 2. Bundesliga träumen durfte.
Das rasante Wachstum überforderte Rot-Weiss Essen bisweilen
Sportlich und wirtschaftlich hat sich einiges getan in Essen in den vergangenen Jahren, bisweilen schien der Klub regelrecht überfordert vom rasanten Wachstum, nachdem die Jahre in der Unterklassigkeit gehörig an die Substanz gegangen waren. Als die Verantwortlichen für das Geschäftsjahr 2022 einen Verlust von 3,6 Millionen Euro verkündeten, war die Aufregung gewaltig – auch weil niemand eine Strategie zurechtgelegt hatte, um Öffentlichkeit und Fans darauf vorzubereiten, dass genau dies kommen könnte bei höheren Kosten in der 3. Liga und der Insolvenz des Hauptsponsors. Auch das Heimtrikot, auf dem das Vereinswappen kaum, das Sponsorenlogo dagegen sehr gut zu sehen war, geriet zum kommunikativen Desaster.
Derlei Themen kennt man in Leipzig nicht, die Bullen aus dem Logo des Geldgebers hat man sehr unverblümt ins eigene Emblem integriert. Und während Essen im Sommer viele Leistungsträger wie Felix Götze, Vinko Sapina und Marvin Obuz ziehen lassen musste – auch weil es anderswo mehr zu verdienen und bessere Perspektiven gibt –, verpflichtete RB jüngst den 19-jährigen Antonio Nusa für kolportierte 22 Millionen Euro. Der gesamte RWE-Kader ist laut einschlägigen Portalen nur ein Viertel davon wert.
RWE-Trainer Christoph Dabrowski hofft auf das Quäntchen Glück
Die Unterschiede sind gewaltig, auf dem Rasen aber wollen die Essener sie zumindest für 90 Minuten vergessen machen. „Wir müssen sehr kompakt sein und die Momente nutzen, die uns der Gegner vielleicht anbietet“, sagt RWE-Trainer Christoph Dambrowski. „Ballbesitz werden wir wahrscheinlich nicht viel haben, wir müssen bereit sein zu leiden. Wir wollen uns gut verkaufen und schauen dann, was das Quäntchen Glück mit uns vorhat.“
Sicher ist: Sie werden auf die Unterstützung ihrer Fans zählen, die gegen diesen beim Anhang besonders ungeliebten Gegner besonders laut sein wollen und daher drastische Protestszenarien verwarfen. „Einzelne Fans hatten zunächst auch überlegt, das Spiel zu boykottieren, aber man wollte dann doch das eigene Team unterstützen“, berichtet Michael Rohde von der Fan- und Förderabteilung bei RWE. Aber ein Fanmarsch ist aus Protest geplant, Tausende werden durch die Stadt zum Stadion ziehen. Rouven Schröder und seine Leipziger sollen auch diesmal früh spüren, welche Stimmung ihnen am Samstag blüht.