Siegen-Wittgenstein. Nervosität im Wettkampf begleitet alle Schießsportler. Der Umgang damit ist schwierig, aber trainierbar.
Biathlon auf Schnee zählt nicht unmittelbar zum Schießsport, bringt aber einem Millionenpublikum regelmäßig Aspekte des sportlichen Waffeneinsatzes vor Augen. Wie sehr der Kopf beim Schießen mitspielt, zeigte am Dienstagmorgen der Einzel-Wettkampf bei den Olympischen Spielen in Peking – binnen zwei Minuten zielten mit dem Norweger Johannes Thingnes Bø und dem Russen Maxim Tsvetkov jeweils beim letzten Schuss zwei Athleten daneben, die sich mit einem Treffer zum Olympiasieger gekrönt hätten.
„Da herrscht Chaos im Kopf, ich kann mich da gut reinversetzen. ,Wenn ich jetzt treffe...’ – wenn solche Gedanken kommen, wird es ganz schwer“, sagt Matthias Dreisbach. Der Sportschütze aus Girkhausen hat in seiner Karriere nicht weniger als 48 WM- und EM-Medaillen in der Sparte der Vorderladerschützen gewonnen. Er sagt: „Bis ich gelernt habe, die Nervosität zu kontrollieren, war es ein ganz langer Prozess. Das Schießen spielt sich zu 80 Prozent im Kopf ab.“
Andere Fachleute setzen diesen Prozentsatz noch höher an, allerdings bezogen auf den Leistungsbereich im Sportschießen, wo bei anderen Faktoren weitgehend „Waffengleichheit“ herrscht, wo zwischen Medaillengewinnern und ihren Konkurrenten keine oder nur geringfügige Unterschiede in der Schießtechnik, beim Material oder bei den athletischen Grundlagen vorhanden sind.
Während bei Kreismeisterschaften eher noch die Routine, die richtige Muskelspannung und der saubere Stand den Unterschied machen, beschäftigen die Schießportverbände für ihre Spitzenkader ganz selbstverständlich Mentalcoaches und Psychologen.
Aufregung ist Fluch und Segen
Ein Riesenthema ist dabei die Aufregung bei einem Wettkampf, die zunächst positiv zu betrachten ist, da sie die Sinne schärft, also Konzentration und Reaktion zuträglich ist – nicht selten erzielen Schützen persönliche Ring-Rekorde im Wettkampf. Doch ebenso häufig ist das Gegenteil der Fall, werden die Trainingsleistungen in der Bewährungssituation verfehlt, weil die Aufregung zum Hemmnis wird. Wie in anderen Sportarten ist dies eine Typfrage – nur spielt es hier eine noch größere Rolle.
Die Nervosität zu bekämpfen, das funktioniere nicht, sagt Frank Wunderlich aus Feudingen, der schon oft die Qualifikation zu Deutschen Meisterschaften geschafft hat. „Gerade bei großen Wettkämpfen und gerade bei den ersten Serien hat jeder damit zu tun“, sagt der Armbrustschütze.
Störfaktoren ausblenden
Entscheidend ist dann die Fähigkeit, die Konzentration auf die Faktoren zu richten, die für einen erfolgreichen Schuss wichtig sind. Eine Kunst ist, äußere Störfaktoren wie Konkurrenten und Zwischenstände, Ärgernisse wie Kampfrichter-Fehlentscheidungen und Geräusche auszublenden. Und auch innere Reize, wie es in der Fachsprache heißt, gilt es zu unterdrücken.
„Das kann man üben und das muss man üben. Wenn einem Personen von zu Hause oder von der Arbeit im Kopf rumschwirren, muss man das gleich blockieren. Da ist natürlich auch Willensstärke gefragt“, sagt Wunderlich.
Los geht es im Grunde schon vor dem Wettkampf – manche Schützen setzen auf Abkapselung, um im Kopf schon einmal die Abläufe durchzugehen. Andere verfallen in wilde Redseligkeit. „Diese Extreme gibt es“, weiß Tim-Felix Beuter, Luftgewehrschütze des SV Berghausen.
Doch was hilft, wenn die Nerven flattern oder Dinge im Kopf herumgeistern, die nicht an den Schießstand gehören? „Atme erstmal tief durch“ – dieser häufig formulierte Rat von Trainern ist nicht der schlechteste, denn Atemübungen können, sofern sie ein Schütze beherrscht, durchaus helfen. Ist diese noch mit einem Zählen verbunden, sei wenig Platz für ablenkende Gedanken, wie der Sportpsychologe Hannes Kratzer in seinem Buch „Psychologie für Sportschützen“ schreibt.
Als eine etwas kuriose, aber denkbare Bewältigungsmethode nennt er auch die Defusiontechnik, mit der leistungshinderliche Gedanken innerlich auf eine bekannte Melodie gesungen werden, um ihnen den bedrohlichen Charakter zu nehmen.
Gängiger ist die Konzentration auf den Ablauf des Schusses, das Simulieren der Technik – um im „Hier und jetzt“ zu bleiben und die Routine mit dem Sportgerät zu stützen. Auch die Kunst der Selbstinstruktion spielt eine ganz große Rolle. Ein positiver, auf optimale Ausführung abzielender Gedanke („Letzter Schuss, den treffe ich auch noch“) sei zielführender als ein inhaltsgleicher negativer Gedanke („Letzter Schuss, der darf jetzt nicht vorbeigehen“). Wie wichtig dieser positive innere Dialog ist, weiß auch Matthias Dreisbach: „Ich versuche mir zu sagen: Ich will ein gutes Ergebnis schießen und das tun, was ich im Training gemacht habe. So geht man mit einer gewissen Sicherheit in den Wettkampf.“
Totaler Reset
Die Kunst ist indes, sich bei allem positiven Denken nicht selbst in Tasche zu lügen, also die Hintergründe bei Fehlern – für manchen Schützen ist dies eine Sieben, für manche schon eine Neun – zu verdrängen.
Helfen kann auch ein kompletter Reset, sofern die Wettkampfform dies hergibt. Bei Luftgewehr-Mannschaftswettkämpfen, wo 40 Schuss in circa einer Stunde abzugeben sind, verlassen Schützen nicht selten sogar das Gebäude, wenn es nicht wie gewünscht läuft. „Das ist absolut üblich, um Kraft zu tanken oder und neu aufzubauen“, sagt Niels Althaus vom SV Berghausen: „Vielleicht hatte man nicht den richtigen Stand oder die Muskeln haben nicht so mitgespielt, wie es sein muss. Dann kann es nach der Pause besser funktionieren.“ Die Biathleten bei den Olympischen Spielen dürften durchaus neidisch auf diese Option blicken.