Siegen-Wittgenstein. Warum ist das Video entstanden, welche Regeln gelten, welche Strafen drohen? Wie sieht es mit Akzeptanz und Kontrolle der Abstandsrichtlinie aus?

Das Video, das einen rücksichtslosen Autofahrer bei einer Art „Jagd“ auf Radfahrer zeigt, hat im Kreis Siegen-Wittgenstein für viel Gesprächsstoff gesorgt, aber auch einige Fragen aufgeworfen. – Ein Überblick.

Autofahrer macht mit SUV Jagd auf Radfahrer

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    1. Wie ist das Video entstanden?

    Markus Mockenhaupt, Ersteller des Videos, hat die am Rad mitgeführte Actionkamera nicht im Sinne einer Dashcam genutzt, sondern zur Erstellung eines Trainingsvideos. „Das ist eine Spielerei“, sagt der Triathlet des TVE Netphen über das Tool. Gekoppelt mit den weiteren Geräten des Radcomputer-Herstellers werden Leistungsdaten wie die Tretleistung in Watt, welche eine Leistungsbewertung unabhängig von äußeren Faktoren erlaubt, Geschwindigkeit, Trittfrequenz und Puls ins Video eingebunden. Dem 40-Jährigen ging die gefährliche Situation an die Nieren – das Video zeigt, dass Mockenhaupts Puls auf dem flachen Straßenabschnitt auf 171 Schläge pro Minute steigt. Der Sportler sagt: „Ich gehe normalerweise nie so aus mir heraus, wie es hier passiert ist.“ Nachdem am Dienstag bereits ein Unbeteiligter Dritter, der das Video in einem sozialen Netzwerk für Sportler gesehen hatte, Anzeige erstattet hat, hat inzwischen auch Mockenhaupt eine Anzeige gestellt.

    2. Kommt es häufig zu vergleichbaren Konflikten?

    „Dass man im Siegerland von Autofahrern angehupt wird, kommt oft vor. Hier ist man als Radfahrer gefühlt immer im Weg. Das ist nicht überall in Deutschland so“, sagt Markus Mockenhaupt. Eine Eskalation wie jetzt sei aber die totale Ausnahme. „Der Radverkehr nimmt immer weiter zu und damit auch die Zahl der Konflikte. Das ist zumindest die subjektive Einschätzung der Kollegen“, sagt Niklas Zankowski, Pressesprecher der Kreispolizeibehörde. „Ob sich das Problem verschärft, ist schwierig zu messen.“

    3. Hat der Autofahrer mit zu geringem Abstand überholt?

    Klar und deutlich: Ja! Das Video zeigt, dass der SUV-Fahrer trotz freier Gegenfahrbahn beim Überholen nicht einmal den Mittelstreifen tangiert. Auf 80 Zentimeter schätzt Mockenhaupt den Abstand bei hoher Geschwindigkeit, was bei Ansicht des Videos hinkommen könnte. Während das Überholen früher laut Gesetz mit „ausreichendem Sicherheitsabstand“ vorgeschrieben war, enthält die Straßenverkehrsordnung seit 2020 weniger Interpretationsspielraum, sondern konkrete Zahlen. 1,50 Meter Seitenabstand müssen innerorts beim Überholen von Radfahrern eingehalten werden. Sogar 2,00 Meter sind vorgeschrieben, wenn ein Radfahrer – wie im aktuell diskutierten Video – außerorts überholt wird. Gleiches gilt, wenn innerorts ein Kind auf dem Fahrrad fährt.

    4. Welche Geldbußen sind beim Überholen mit zu geringem Seitenabstand und bei Beleidigungen vorgesehen?

    Der Bußgeldkatalog sieht 30 Euro Strafe vor und bezieht sich dabei auf § 5 Absatz 4 Satz 2, 3 und § 49 Absatz 1 Nummer 5 der Straßenverkehrsordnung. 35 Euro sind es, wenn es bei Überholen mit zu geringem Seitenabstand zu Sachbeschädigungen kommt. Der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot durch Nichtbenutzen der rechten Fahrbahnseite mit Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer kostet laut Katalog übrigens 25 Euro. Der Regelsatz für das Außer-Acht-Lassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beträgt 30 Euro.

    Deutlich gravierender dürften indes die Aspekte „Nötigung“ und „Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ sein, wegen derer aktuell ermittelt wird. Auch eine Einordnung der Situation als versuchte Gewalttat ist denkbar, dann bliebe es nicht bei Summen im Taschengeld-Bereich. Auch dem Radfahrer könnte noch etwas „blühen“. Für Beleidigungen im Straßenverkehr gibt es zwar keine Bußgeldtabelle, doch sofern es zur Anzeige kommt, entscheidet ein Richter über die individuelle Strafe, die bei einem „Stinkefinger“ mehrere tausend Euro betragen kann.

    Für die Behörden ist der am Montag auffällig gewordene Autofahrer übrigens kein Unbekannter. Im Juni dieses Jahres sei er nach Polizeiangaben schon einmal wegen Nötigung, Bedrohung und Beleidigung angezeigt worden, das Verfahren habe die Staatsanwaltschaft seinerzeit aber einstellen müssen. Die Anzeige stellte eine Fußgängerin, die in Bad Laasphe einem LKW-Fahrer beim Rangieren habe helfen wollen und angab, in diesem Zusammenhang durch den Autofahrer bedrängt worden zu sein, weil dieser nicht habe warten wollen.

    5. Wird die Abstandsrichtlinie allgemein akzeptiert?

    Eher nein. An vielen Stellen im Straßenverkehr ist ein regelkonformes Überholen von Radfahrern nicht möglich, Autofahrer müssen dann ihre Geschwindigkeit anpassen und „warten“ – was sie in der Praxis aber oft nicht tun, wie verschiedene Untersuchungen zeigen. Je nach Studie wird der geforderte Mindestabstand von zwischen 50 und 80 Prozent der Autofahrer unterschritten.

    6. Wird die Abstandsrichtlinie überhaupt kontrolliert?

    Eine Zahl, wie viele Bußgelder wegen knappen Überholens verhängt werden, kann die Kreispolizeibehörde nicht nennen. Pressesprecher Niklas Zankowski betont aber: „Wir führen viele Sonderaktionen durch, bei denen der Radverkehr besonders im Fokus steht. Sobald es Verstöße gibt, werden Bußgelder fällig.“ Kontrolliert werde dabei auch das Verhalten von Radfahrern. So wurde wegen eines Rotlichtverstoßes kürzlich ein Fahrradfahrender in Freudenberg bestraft.

    7. Mussten die beiden Radfahrer hintereinander fahren?

    Dies war zwar der Fall, aber keine Pflicht. Mit der Novelle der Straßenverkehrsordnung im vergangenen Jahr ist die Regelung klar formuliert: Sofern der Verkehr nicht behindert wird, dürfen Radfahrer generell zu zweit nebeneinander fahren. Da der Autofahrer für einen vorschriftsmäßigen Überholvorgang mit ausreichend Sicherheitsabstand ohnehin auf die Gegenfahrbahn hätte ausweichen müssen, hätte ein Nebeneinanderfahren in der Frage der Überholmöglichkeit keinen Unterschied bedeutet.

    8. Werden Videoaufzeichnungen bei Gerichtsverfahren als mögliches Beweismittel akzeptiert?

    Der Einsatz von Dashcams und Actionkameras im öffentlichen Raum ist rechtlich umstritten. Der Bundesgerichtshof sieht sie aber als zulässiges Beweismittel. Ein Gericht beurteilte die „Intensität und Reichweite des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (als) gering“ und ließ das Video als Beweis zu. Das Interesse des Radfahrers an einer Beweissicherung ist also höher zu bewerten, als das Verletzen der Rechte des anderen Verkehrsteilnehmers. Aufzeichnungen der Kameras können aber auch gegen den Fahrer verwendet werden.

    >> HINWEIS: Was der Pkw-Fahrer zu dem Vorfall im Siegerland sagt, ist unklar. Die WESTFALENPOST sucht den Kontakt zu ihm, um ihn Gelegenheit zu geben, seine Sicht der Dinge zu schildern. Das ist bislang aber noch nicht gelungen. (Diesen Hinweis haben wir ergänzt)