Helden/Frankfurt. Die edelsten Schätze warten in der Tiefe. Das weiß jeder Goldgräber, jeder Perlentaucher und jeder, der sich für Fußball interessiert.

Wie Jonas Schulte aus Helden. Der 35-Jährige Journalist und Moderator des Hessischen Rundfunks hat den hessischen Fußball erforscht. Und er weiß, dass dieses sympathische Bundesland eben nicht nur aus der glanzvollen und namhaften „Oberfläche“ wie Eintracht Frankfurt, Darmstadt 98, SV Wehen-Wiesbaden oder Kickers Offenbach besteht, sondern gerade in den tiefen Ligen darunter die unglaublichsten Geschichten liegen.

Viele davon hat Jonas Schulte in seinem Buch „Fußballheimat Hessen“ verewigt. Am Wochenende hielt er zum ersten Mal eine Lesung in seinem Heimatdorf Helden ab. Es wurden 120 kurzweilige Minuten im Dorfhaus, initiiert wurde die Veranstaltung vom Dorfverein Helden unter dem Vorsitz von Klaus Gabriel und anmoderiert von Günter Schulte.

Balkon mit Blick ins Stadion

Jonas Schulte, aktuell in Frankfurt/Main zu Hause, wohnt am Bornheimer Hang und kann vom Balkon aus die Spiele des FSV Frankfurt anschauen. Er arbeitete einst als freier Mitarbeiter bei der Westfälischen Rundschau im Kreis Olpe und spielte Fußball beim FSV Helden. Was zur Frage führt: Wie kommt ein derart im Sauerland verwurzelter Fußballfan wie Jonas Schulte an den Hessen-Fußball? An Adler Weidenhausen, an die FSV Bergshausen, an den SV 1970 Willofs oder gar an die SG Dillich-Nassenerfurth-Trockenerfurth. Schon der Name schlägt jeden Freund des Amateurfußballs in seinen Bann.

SG Dillich-Nassenerfurth-Trockenerfurth. Auch Namen wie diese schlagen Freunde des Amateurfußballs in ihren Bann.
SG Dillich-Nassenerfurth-Trockenerfurth. Auch Namen wie diese schlagen Freunde des Amateurfußballs in ihren Bann. © Lothar Linke

Die Begründung leuchtet ein. Zwar orientiert sich der sauerländische Fußballfan vorzugsweise Richtung Ruhrgebiet oder Rheinland. Aber es gebe auch „Gründe, die Autobahn 45 mal in die andere Richtung zu befahren. Die Richtung, in der man nicht die Rahmede-Talbrücke durch Lüdenscheid umfahren muss“, steht im Flyer zur Veranstaltung. Wer den Abend in Helden miterlebt hat, kann dem nur zustimmen.

An den Grenzen des Fußballs

Fußballgeschichte hat Hessen reichlich zu bieten. Bis in die „Steinzeit“ des Fußballs. So war das erste Länderspieltor eine hessische Co-Produktion. Beim 3:5 gegen die Schweiz 1908 traf Fritz Becker aus Frankfurt (Frankfurter Kickers). Gustav Hensel aus Kassel (vom Casseler FV) hatte die Flanke geschlagen.

Die Faszination Amateurfußball hat Jonas Schulte von Kindesbeinen an gepackt. 2008 ist er zum Studium nach Gießen gewechselt. Die Liebe zum tieferklassigen Kick ist geblieben. In Hessen lernte er immer mehr Vereine kennen, beschränkte sich nicht nur auf das Anschauen der 90 Minuten. „Ich habe immer versucht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen“, blickte er zurück, „interessant, was die zu erzählen haben, was für Anekdoten sich da ergeben.“

Es sind auch Geschichten, die ihn zur Frage verleiteten: Wo sind die Grenzen des Fußballs? Was ist alles möglich? Der damalige Verbandsligist Germania Großkrotzenburg konfrontierte Jonas Schulte im September 2019 mit diesem Thema. Der Gegner hieß SV Der Bosnier Frankfurt, der führte zur Halbzeit mit 3:0 und legte bis zum 5:0 nach. In der 58. Minute traf Großkrotzenburg zum 1:5. Dann begannen die magischen 30 Minuten des Robin Prey. Er erzielte ab der 60. Minute alle sechs Tore vom 2:5 bis 7:5. Damit nicht genug: Zuvor, am Sonntag Vormittag, hatte Prey noch einen 10-Kilometer-Lauf absolviert.

Nicht Rio oder Buenos Aires, sondern Herdorf

400 Fußballplätze in Hessen hat der Heldener besucht, insgesamt 800 Sportanlagen hat er gesehen. Er geht voll auf in dieser Leidenschaft. Jonas Schulte: „Das Schönste an diesem Hobby ist, dass man das Schönste noch vor sich hat.“ Wohin möchte er unbedingt noch? Nein, die Antwort ist nicht Rio oder Buenos Aires, sondern: „Nach Herdorf im Westerwald. Die haben ein Riesen-Naturstadion, was in den Fels hineingebaut wurde.“

Jonas Schulte sah verfallene Anlagen, auferstandene Vereine und verblichenen Ruhm. Zu seinem Vortrag präsentierte er das Trikot des VfR Oli Bürstadt. Der spiele in der 70er Jahren in der 2. Liga, gesponsert vom Unternehmer Otto Limburg (OLI). Heute ist er A-Kreisligist. „Noch letzte Woche habe ich dort einen Legenden-Abend moderiert. Da waren alle, die damals dabei waren, da.“ Und das waren klangvolle Namen: Die Trainergrößen Klaus Schlappner und Lothar Buchmann, oder Jürgen Groh, Europacupsieger mit dem HSV.

„Chuck Norris“ von Nordhessen

Den „Chuck Norris“ von Nordhessen, also den Mann, der das Unmögliche schafft, verkörpert Sören Gonnermann von Adler Weidenhausen. Zwei Mal versuchte das große Hessen Kassel, Gonnermann zu verpflichten. „Beim ersten Mal hätte ich meine Ausbildung hinwerfen müssen, beim zweiten Mal hat mich Kassel einfach nicht genug überzeugt. Hätten die sich mal mehr ins Zeug gelegt“, so der Spieler.

Hessen Kassel war auch beteiligt, als Gonnermann endgültig in die hessische Fußballgeschichte einging: Im Hessenpokal 2019 besiegte Weidenhausen die Kasseler vor 1500 Zuschauern mit 4:1, Gonnermann erzielte alle vier Tore gegen den Großstadtklub und turmhohen Favoriten. In Jonas Schultes Buch wird er zitiert: „Nach dem 4:1 sind alle auf mich drauf gesprungen. Ich lag unten und hatte kurz Angst um mein Leben.“ Seine Karrierebilanz: 362 Tore in 376 Spielen.

Der Kampf von Dynamo Windrad

Von einem Kampf der besonderen Art berichtet Schulte im Kapitel des Vereins Dynamo Windrad: Der bekam einst keine Zulassung durch den Verband. Grund: Der Name „Dynamo“ ähnele zu sehr den Gepflogenheiten der Vereine aus der DDR und der Ostblockstaaten. Die Verantwortlichen des Vereins klagten sich durch die Instanzen, derweil kickte die Mannschaft in der Freizeitliga und in einem Protest-Trikot. Es trägt das DFB-Wappen, aus dem der Bundesadler kopfüber herausstürzt.

In jener Zeit wollten die Spieler von Dynamo Windrad wissen, wie es im Osten wirklich zugeht, unternehmen Fußballreisen in die Sowjetunion, in die DDR, nach Kuba und China. 1988 und völlig entnervt versuchte Dynamo, sich im DDR-Fußball anzumelden. Dann aber kam der Mauerfall. Und als Dynamo Dresden in der Bundesliga spielte, gingen dem DFB die Argumente gegen den Namen Dynamo Windrad schlagartig aus. Heute hat der Verein 1500 Mitglieder, engagiert sich in der Integrationsarbeit und ist dafür vom DFB mehrfach preisgekrönt worden.