Bochum/Dortmund. Der BVB und der VfL Bochum kommen zum Derby aus verschiedenen Sphären zusammen. Das war mal anders. Peter Neururer erinnert sich.
Thomas Ernst war in der Spätphase seiner Karriere zum Frühaufsteher geworden. Das Alter eben. Mit 36 Jahren enden Nächte früher als mit Anfang 20. Während die übrigen Profis des 1. FC Kaiserslautern also an jenem Frühlingstag im Mai 2004 noch in den Federn lagen und vom Klassenerhalt träumten, verließ Ernst sein Zimmer zeitig und ging als erster Spieler in den Frühstückssaal des Mannschaftshotels.
Karl-Heinz Emig, Assistent von Trainer Kurt Jara, saß schon dort. Aber wie? Beim zweiten Gang zum Buffet sah sich Ernst zum eingreifen gezwungen. „Tue mir bitte einen Gefallen“, forderte er Emig auf, „entweder straffst du dich jetzt und nimmst eine andere Körperhaltung ein, oder du gehst, wenn die Mannschaft gleich kommt. Du sitzt da wie ein Häufchen Elend. Wie willst du denn da Zuversicht ausstrahlen?“
BVB, VfL Bochum, Schalke: So lief das Saisonfinale 2003/2004
Hätte er sich mal ein Beispiel am VfL Bochum genommen. Rund 330 Kilometer weiter nördlich flunkerte sich Peter Neururer nämlich munter durch die Woche. „Wenn ich eine Fähigkeit hatte, dann sicherlich dem einen oder anderen Spieler eine Stärke einzureden, die er so gar nicht hatte“ erinnert sich der 68-Jährige. „Und das in Verbindung mit vielen Spielern ergibt das irgendwann mal einen Erfolg.“ Seine Erzählung als VfL-Trainer ging daher so: „Auf Lautern können wir uns verlassen, Dortmund wird da nicht gewinnen.“ Und so sollte es kommen im besonderen Bundesliga-Finale der Saison 2003/2004.
Am kommenden Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) tritt der VfL Bochum zum Derby bei Borussia Dortmund an. Die ungleichen Nachbarn, die nur eine kurze Autofahrt über die A40 trennt, spielen ökonomisch in anderen Welten. Der kleine VfL versucht auch im dritten Jahr, sich in der Bundesliga zu etablieren. Der große BVB träumt regelmäßig von der Meisterschale.
Vor 20 Jahren aber, da wurde die Fußballwelt im Ruhrgebiet mal kurz auf links gedreht. In der Abschlusstabelle stand der VfL auf Platz fünf und qualifizierte sich für den Uefa-Pokal. Vor dem BVB. Und vor Schalke 04. Eine Sensation, oder: „Ein Hochgenuss für einen jeden Trainer und Fan des VfL Bochum“, sagt Neururer. Wie es dazu kommen konnte?
VfL Bochum und Borussia Dortmund im Fernduell
Die Ausgangslage am letzten Spieltag: Kaiserslautern mit Torhüter Ernst, zuvor lange Bochumer Schlussmann, brauchte einen Punkt gegen Borussia Dortmund, um die Klasse zu halten. Der BVB indes hätte sich mit einem Sieg für den Uefa-Pokal qualifiziert. Weil die Partie im Fritz-Walter-Stadion 1:1 endete, schob sich der VfL, der parallel dazu im Ruhrstadion Hannover 96 mit 3:1 besiegte, noch an den Dortmundern vorbei. In der eigenen Hand hatten die Bochumer den Sprung in den Europapokal nicht mehr. „Aber das habe ich natürlich anders verkauft“, erinnert sich Neururer, der Motivationskünstler.
Kaiserslautern ging schon nach sieben Minuten durch Vratislav Lokvenc in Führung. Jan Koller glich in der 71. Minute aus. 1:1 – so stand es auch lange in Bochum zwischen dem VfL und Hannover. Vorteil Dortmund. Paul Freier aber erlöste Bochum mit dem 2:1 in der 76. Minute. Das Zittern begann.
„Weit links neben meiner Trainerbank war ein Bildschirm aufgebaut, das vergesse ich nie“, erinnert sich Neururer. Premiere lief, andere Zeit. „Wir wussten nicht, ob wir feiern sollten oder nicht, weil das andere Spiel noch lief. Für mich war es gefühlt eine halbe Stunde, tatsächlich aber nur ein oder zwei Minuten, bis wir erlöst wurden. Was da im Ruhrstadion los war, da kriege ich heute noch Gänsehaut.“ In Lautern feierte man den Klassenerhalt. Die Dortmunder, die in finanzielle Bredouille geraten waren, standen dabei bedröppelt auf dem Rasen. Zukunft? Ungewiss. „Sie hatten die Qualität, haben nach vorne gespielt“, meint Thomas Ernst. „Aber es war nicht so als ob wir geschwommen wären.“ Dortmund hielt dem Druck nicht stand.
VfL Bochum: Viele besondere Geschichten
Dieser 34. Spieltag bot viele VfL-Geschichten.
Ausgerechnet Freier, den die Reaktion der Fans auf seinen bevorstehenden Abgang zu Bayer Leverkusen schmerzte, schoss das 2:1. „Ich kenne keinen loyaleren, vorbildlicheren Spieler als Slawo Freier. Das hat ihm verdammt wehgetan“, sagt Neururer.
Ausgerechnet der frühere Bochumer Thomas Christiansen, inzwischen in Diensten von Hannover, drohte zum Spielverderber zu werden, als er das 1:1 erzielte.
Und ausgerechnet Lokvenc, den der VfL schon als Nachfolger von Vahid Hashemian, der zu Bayern München ging, eingekauft hatte, leistete als Torschütze gegen den BVB Schützenhilfe. „Wir haben Locki an dem Abend noch kontaktiert“, erzählt Neururer. „Aber der hat uns nicht mehr verstanden.“ Dabei sprach der Tscheche doch gut Deutsch. „Sehr gut sogar“, antwortet Neuruer und lacht. Mit Mundart Moritz Fiege konnte Lokvenc aber wohl nichts mehr anfangen.
Nach Bochums Uefa-Pokal-Einzug musste auch Peter Neururers Schnäuzer dran glauben, eine verlorene Wette gegen Dariusz Wosz und Rein van Duijnhoven. Wer dachte schon, dass der VfL am Ende Fünfter wird? Der Ex-Trainer erzählt gerne diese Anekdoten, schwärmt von dem Zusammenhalt: Im Bus sangen alle gemeinsam Herbert Grönemeyer. Ein Derbysieg gegen Dortmund (3:0) sprang in jener Saison heraus, zudem ein Erfolg über Bayern München (1:0), nachdem Neururer den Journalisten erzählt hatte, dass Zeugwart Andy Pahl die Sieges-Taktik, ruhig mal offensiver zu spielen, für diese Partie entwickelt habe. „Klar, große Klappe“, sagt Peter Neururer. „Aber ist eingetreten.“