Essen. Knatsch im ersten, Schulterschluss im zweiten Halbjahr: Das waren die Schlüsselmomente, die zur Top-Hinrunde bei RWE führten - eine Analyse.

Da stand er nun mit einem breiten Grinsen, reckte die Faust nach oben, feierte vor der West. Christoph Dabrowski hatte seine Mannschaft gerade zu einem 2:0-Heimsieg gegen Waldhof Mannheim gecoacht, es war der fünfte Sieg in Folge für Rot-Weiss Essen. Der Drittligist mischte plötzlich oben mit und der Trainer wurde mit Sprechchören gefeiert. Welch Genugtuung das für den 45-Jährigen gewesen sein muss, denn gerade auf der mächtigen Stehtribüne forderte noch wenige Monate vorher so manch einer seine Entlassung.

Unter Beschuss in den ersten sechs Monaten, gestählt, gefestigt in der zweiten Jahreshälfte: Christoph Dabrowski steht sinnbildlich für Rot-Weiss Essen im Jahr 2023. Klassenerhalt mit Ach und Krach, eine gespaltene Fanszene, Krach auf der Jahreshauptversammlung - und nun ein Weihnachten so besinnlich wie schon lange nicht mehr. Wie hat RWE den Umschwung geschafft?

Rot-Weiss Essen hat die Lehren aus der Saison 2022/23 gezogen

Um das zu verstehen, muss man zurück in den Frühling gehen. Dass sich etwas ändern muss, war den Verantwortlichen klar. Das neue Führungs-Duo Marcus Steegmann (Direktor Profifußball) und Christian Flüthmann (Sportdirektor) startete im April, teilt sich seitdem das Aufgabenfeld, das der freigestellte Jörn Nowak zuvor innehatte. Beide schrecken nicht vor unpopulären, kontroversen Entscheidungen zurück. Simon Engelmann, Oguzhan Kefkir und Felix Herzenbruch, allesamt Fanlieblinge und Aufstiegshelden, erhielten keine neuen Verträge.Die Entscheider hielten die Kritik aus und stellten in der Sommerpause ein neues Team zusammen, mit neuen Führungsspielern.

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Christoph Dabrowski reflektierte die hitzige Premierensaison bei RWE ebenfalls. In Sommerpause gab er sich nahbar und versuchte einen Vorwurf, den er aus Teilen der Fanszene immer wieder zu hören bekam, zu entkräften: dass er arrogant sei. Dabrowski und andere Funktionäre erschienen auf Partys von Ultra-Gruppen. Der Trainer suchte den Dialog, die Reibung, und was wohl am wichtigsten war: Er zeigte Selbstkritik. Dabrowski, Steegmann und Flüthmann bemühten sich um den Schulterschluss mit den Fans, mit der aktiven Szene. Sie wussten aber auch, dass sie selbst liefern müssen, um den Anhang mitzunehmen.

Das erste Spiel ging verloren. 1:2 in Halle, spielentscheidende Fehler. Es folgten zwei Remis, dann zwei Siege. RWE kam immer besser in der Saison an, und schon in den ersten Spielen war sichtbar: Das Team hat sich verbessert, die Neuzugänge scheinen ins Team zu passen. Es ging in die richtige Richtung, das merkten die Fans.

„Kleine JHV“ hat RWE geholfen

Abseits des Sportlichen waren ebenfalls Risse zu füllen, Wogen zu glätten. Die „Katastrophen-JHV“ musste aufgearbeitet werden. Der Vorstandsvorsitzende Marcus Uhlig erhielt einen zweiten Mann an seiner Seite: Sascha Peljhan. Der RWE-Fan hatte schon vorher viel hinter den Kulissen bewegt und dem Verein mit einer hübschen Summe geholfen, das Ziel Drittliga-Aufstieg zu erreichen. Er krempelte Abläufe und Strukturen um. Dass Peljhan ab Sommer auch offiziell als Vorstandsmitglied fungierte, war daher nur logisch.

Der Vorstand und Aufsichtsrat von Rot-Weiss Essen (v.l.): Alexander Rang, Sascha Peljahn und Marcus Uhlig sowie André Helf (Aufsichtsratsvorsitzender) und Thomas Hermes. Foto: Kerstin Kokoska
Der Vorstand und Aufsichtsrat von Rot-Weiss Essen (v.l.): Alexander Rang, Sascha Peljahn und Marcus Uhlig sowie André Helf (Aufsichtsratsvorsitzender) und Thomas Hermes. Foto: Kerstin Kokoska © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Der Vorstand wurde im Herbst nochmals erweitert. Das Trio um den Vorsitzenden Uhlig und Peljhan, der sich um den Bereich Finanzen kümmert, wurde von Alexander Rang als Vertriebsvorstand komplettiert. Seine ersten Stunden im Amt liefen komplett schief. Die Nachricht, dass Rang bei RWE einsteigt, schwappte über die Karriereplattform Linkedin in die Öffentlichkeit und ebenso der Fakt, den RWE kaschierte, dass er zuvor beim Schalker Fanclub-Verband gearbeitet hatte. Rang räumte sofort ein, wie ungeschickt das alles war. Mit einer klaren Linie und direkter Kommunikation erarbeitete er sich ein Standing bei den Fans.

Dass er bei der „Kleinen JHV“ am 5. September an der Treppe zum Saal stand und die Mitglieder per Handschlag begrüßte, half dabei, kam natürlich gut an. Bei der Veranstaltung versuchten Marcus Uhlig, Sascha Peljhan sowie André Helf und Hans-Henning Schäfer aus dem Aufsichtsrat, die finanzielle Situation zu erläutern.

Spiel bei Dortmunds U23 war der Wendepunkt

Das klappte: Wirtschaftsprüfer Schäfer erklärte ausführlich, wie das „Millionen-Loch“ zustande kam, was RWE seitdem verändert hat und warum sich kein Fan Sorgen machen müsse. Klar wurde auch, dass Peljhan kein Investor ist, der Profit sehen will, sondern ein Rot-Weisser durch und durch, der einfach nur dem Klub helfen möchte - ohne Gegenleistung. Diese „Kleine JHV“ sollte der Schlüsselmoment für die Funktionäre sein, ein Wendepunkt: Sie haben sich Stück für Stück das Vertrauen wieder erarbeitet, das bei der JHV im Juni verloren gegangen war. Auch das wäre ohne Selbstkritik nicht möglich gewesen. Man kann der Führungsriege nur dazu raten, auch in Zukunft so transparent zu handeln und zu kommunizieren wie im zweiten Halbjahr.

Die Mannschaft lieferte im Herbst weiterhin, schlug Dynamo Dresden und manch einer begann vom Aufstieg zu träumen, um nur wenige Tage später zurück in die Realität katapultiert zu werden. Zunächst verlor Essen in Unterhaching (0:4), dann folgte eine krasse 0:5-Heimpleite gegen den SC Verl. Pfiffe, Galgenhumor, „Engelmann“-Sprechchöre. Da ist einiges kaputtgegangen. Als dann auch noch Kapitän Felix Bastians freigestellt wurde, dachten viele, dass RWE den Selbstzerstörungsknopf gedrückt hat, mal wieder.

Wichtiger Sieg: Rot-Weiss Essen siegte bei Dortmunds U23. Foto: firo
Wichtiger Sieg: Rot-Weiss Essen siegte bei Dortmunds U23. Foto: firo © Ralf Ibing /firo Sportphoto | Ralf Ibing

Das darauffolgende Spiel war immens wichtig, aufgeladen auf so vielen Ebenen. Gelingt die Wiedergutmachung? Wie reagiert die Mannschaft auf das Bastians-Aus? Welches Bild gibt der Klub ab? Was folgte, war bemerkenswert: Vor 12.000 RWE-Fans schlug Dabrowskis Elf die U23 des BVB mit 2:1. Eine Party auf dem Platz und auf den Rängen, wohl der Schlüsselmoment der Hinrunde für die Spieler und für Dabrowski, der sagt: „Dort ist ein Gefühl entstanden, dass man gemeinsam eine große Stärke entwickeln kann. Wie wir unterstützt worden sind, ist fantastisch. Die Mannschaft wurde davon getragen.“

Rot-Weiss Essen: Neue Hierarchie hat sich gefunden

Die beiden Klatschen und die Freistellung von Bastians, der dazu beitrug, dass die Truppe als Team funktioniert, haben zwei Prozesse beschleunigt: Zum einen sind Spieler und Trainer enger zusammengerückt. Zum anderen hat sich eine feste Hierarchie gefunden mit Vinko Sapina und Jakob Golz an der Spitze. Das Vakuum, das Engelmann, Herzenbruch und auch Bastians hinterlassen hatten, war gefüllt. Wieder hat sich eine vermeintlich kontroverse Entscheidung der Verantwortlichen um Steegmann, die Freistellung von Bastians, bezahlt gemacht.

Lesen Sie hier: Das sind die Hintergründe zum Aus von Felix Bastians.

Der so wichtige Dreier ließ RWE durch die nächsten Spiele schweben. Das 2:0 gegen Mannheim, als Dabrowski vor der West feierte, markierte den fünften Sieg in Folge. Rot-Weiss Essen überwintert im engen Verfolgerfeld der Dritten Liga. Und die Entscheidungsträger haben ihre Lektion gelernt: Vorstand und Aufsichtsrat wurden mit klarer Mehrheit auf der Fortsetzung der Jahreshauptversammlung entlastet. Innerhalb eines halben Jahres hat Rot-Weiss Essen seine Fans zurückgewonnen.

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