Melbourne. Alexander Zverev steht bei den Australian Open im Finale. Er muss gegen Jannik Sinner ran. Warum er sich Chancen ausrechnen kann.

Was hat Alexander Zverev nicht alles erlebt seit jenem Sommertag im Juli 2013, als er mit 15 Jahren sein allererstes Match auf der großen Tennistour bestritt, am Hamburger Rothenbaum gegen den Spanier Roberto Bautista-Agut? Großartige Momente, zwei Weltmeister-Titel. Glorreiche Momente, der Olympiasieg in Tokio 2021. Emotional bewegende Momente, der euphorisch bejubelte Heimsieg in Hamburg 2023.

Aber auch Achterbahnfahrten: Zerplatzte Erwartungen, tiefe Enttäuschungen, heftige und lähmende Selbstzweifel. Schweres Verletzungspech, strapaziöse Comebacks immer und immer wieder. Und traumatische Endspielmomente bei den Grand-Slam-Turnieren, die den Wert und die historische Bedeutung eines Centre-Court-Athleten definieren. 2020 die Fünf-Satz-Niederlage im menschenleeren Arthur-Ashe-Stadion von New York gegen Freund Dominic Thiem – nach 2:0-Satzführung. Im letzten Frühling der French-Open-Nackenschlag gegen Carlos Alcaraz.

Alexander Zverev steht zum dritten Mal im Grand-Slam-Finale

Als der unverdrossene und unermüdliche Zverev nun am Freitag auf dem Centre Court von Melbourne stand, 4211 Tage nach seinem verlorenen Debütspiel, sagte der inzwischen 27-Jährige nicht ganz verwunderlich dies: „Vielleicht ist es jetzt Zeit für mich, ein bisschen Glück zu haben.“ Da lag die letzte Merkwürdigkeit in seiner abenteuerlichen Karriere gerade ein paar Minuten zurück, der Sieg gegen den angeschlagenen Altmeister und Melbourne-Rekordgewinner Novak Djokovic im Australian Open-Halbfinale. Kaum hatte Zverev die Tiebreak-Glückslotterie zur Satz-Führung genutzt, kam ihm Djokovic entgegen und breitete die Hand zum Abschied aus. Verdutzt und perplex schlug Zverev ein, er war nach 81 Minuten auf einmal im dritten Major-Finale. 

Alexander Zverev (r.) musste Novak Djokovic trösten.
Alexander Zverev (r.) musste Novak Djokovic trösten. © dpa | Asanka Brendon Ratnayake

Und damit dicht vor der Erfüllung seines größten Lebenstraumes, kurz vor dem Grand-Slam-Titelcoup im 36. Major-Anlauf, nach 669 Profimatches und 142 Grand-Slam-Partien. Die mutmaßlich größte Herausforderung steht Zverev allerdings noch bevor. Am Sonntag gegen den Südtiroler Klassenprimus und Titelverteidiger Jannik Sinner. Der Weltranglisten-Erste zog bisher weitestgehend souverän seine Runden am Yarra River, schüttelte im Halbfinale auch US-Überraschungsmann Ben Shelton 7:6, 6:2 und 6:2 ab.

Zverev schlug Sinner häufiger als er gegen den Italiener verlor

Im Kopf-zu-Kopf-Vergleich liegt Zverev mit 4:2 gegen den Italiener in Führung, er schlug ihn auf Grand-Slam-Niveau jeweils bei den US Open 2021 und 2023, verlor 2020 in Paris. Für Sinner ist es genau wie für Zverev das dritte Grand-Slam-Endspiel – mit dem Unterschied, dass der „Rote Baron“ beide bisherigen Finalmatches gewann, in der vergangenen Saison in Melbourne und New York. So stürmte Sinner dann auch auf den Thron der Weltrangliste. Auf sein Wirken fiel allerdings ein Schatten, als im Sommer eine Dopingaffäre aus dem März 2024 bekannt wurde, mit einem späteren undurchsichtigen Freispruch praktisch hinter den Kulissen. Ein finaler Urteilsspruch des Internationalen Sportgerichtshofes steht in der betrüblichen Causa noch aus.

Kann Zverev elf Jahre nach seinem Juniorentitel im National-Tennis-Center jetzt auch den Höchstpreis bei den Profis gewinnen? Er ist jedenfalls sehr weit gekommen in seiner Laufbahn. Nur die letzten, entscheidenden Meter nach ganz oben fehlten Zverev bisher, auch weil er nicht ganz vollständig den eigenen Qualitäten traute und bei den Big Points auf großer Bühne häufig zu zaudernd und zögerlich wirkte. Aber gerade in den letzten Wochen und Monaten hat der deutsche Frontmann nichts unversucht gelassen, um den Makel des fehlenden Grand-Slam-Titels aus seiner Biographie zu tilgen – mit mehr Angriffstennis, verbessertem Aufschlag und einer stärkeren inneren Balance. „Sascha hat noch einmal einen Entwicklungsschritt nach vorne gemacht“, sagt Boris Becker, „sein Moment ist eigentlich gekommen.“

Titelverteidiger: Jannik Sinner.
Titelverteidiger: Jannik Sinner. © dpa | Ng Han Guan

Ein Pluspunkt für den runderneuerten Zverev ist auf jeden Fall das gute Energiemanagement. Der Riese zeigte Effizienz und Entschlossenheit in der ersten Turnierwoche, verlor keinen einzigen Satz. Auch im Achtel- und Viertelfinale musste er bei 3:1-Siegen nicht an seine Grenzen gehen. Nun das abrupte Ende gegen den zehnmaligen Melbourne-Gewinner Djokovic.

Zverev gewann bei diesem Turnier-Auftritt zudem Sympathien, als er für den am linken Oberschenkel verletzten serbischen Capitano in den Ring stieg – der hatte bei seinem Abgang auch ein paar Buhrufe und Schmähungen geerntet. „Novak hat für diesen Sport in den letzten 20 Jahren alles gegeben. Das hat er nicht verdient. Wenn er aufgibt, dann nicht aus Lust und Laune. Zeigt ihm etwas Liebe“, sagte Zverev, „ich habe vor keinem anderen mehr Respekt als vor Novak.“