Essen. Wie finden Sportler den richtigen Zeitpunkt für ihre Karriereende? Warum streben so viele Comebacks an? Eine Spurensuche mithilfe von Nico Rosberg.
Kaum eine Geschichte wurde in den vergangenen Jahren so ausgeschlachtet wie die von Michael Jordan. Filme, eine Serie, seine Bekleidungslinie ohnehin - der ehemalige Basketball-Star ist längst zur Kult-Pop-Figur geworden. Und zum Vorbild vieler Sportlerinnen und Sportler. Aufgrund seines sportlichen Erfolgs, keine Frage. Aber auch immer häufiger aufgrund seines einzigartigen Comebacks. 1993 beendete er erstmals seine Basketball-Karriere, um ein Jahr später zurückzukehren und noch dreimal mit den Chicago Bulls den Meistertitel in der Nordamerikanischen Basketball-Liga NBA zu gewinnen. Skistars wie Lindsey Vonn und Marcel Hirscher dachten wohl auch an Jordan, als sie sich entschlossen, in diesem Winter zurück auf die Piste zu kehren. Aber die Basketball-Legende hatte am Ende ein Problem: den richtigen Zeitpunkt zu finden, aufzuhören.
Von dem passenden Augenblick träumen fast alle Sportlerinnen und Sportler. Auf dem Höhepunkt des Schaffens soll er idealerweise sein. Dann, wenn sie noch geliebt werden von den Leuten und nicht belächelt aufgrund abfallender Leistungen. Oder noch schlimmer: bemitleidet. Wie etwa die Tennisstars Roger Federer und Rafael Nadal, die beide für sich eben jenes perfekte Karriereende verpassten, sich von Verletzung zu Verletzung schleppten, um sich irgendwann einzugestehen, dass es nicht mehr für die Spitze genügt.
Anders lief die Geschichte bei Nico Rosberg. Der deutsche Rennfahrer hörte auf, als es für ihn nicht mehr hätte höher hinausgehen können. „Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich die Ziellinie in Abu Dhabi überquerte und mein größtes Ziel erreicht hatte: Ich war Weltmeister“, sagt er dieser Redaktion über jene letzte Fahrt in einem Formel-1-Boliden 2016, die gleichzeitig seine Karriereende bedeutete. „Für mich war das nicht nur ein Triumph, sondern auch eine Befreiung. Für diesen Erfolg hatte ich alles gegeben – körperlich, mental, familiär. Ich habe über Jahre hinweg auf so vieles verzichtet, um diesen einen Moment erleben zu dürfen. Und dann, als er da war, war mir endgültig klar, dass es Zeit war, loszulassen.“ Wenngleich es ihm nicht leicht gefallen sei.
Gerd Müller und Matti Nykänen stürzten nach Karriereende ab
Den Sport loslassen - es ist alles andere als leicht für Profisportler und -sportlerinnen. „Ein Karriereende bedeutet einen Umbruch im Leben. Wir sprechen dabei von Anpassungsleistung, die bei jedem neuen Abschnitt im Leben zu Problemen bis hin zu Anpassungsstörungen führen kann“, sagt der Arzt Klaus-Dieter Lübke Naberhaus, der auch als psychologischer Coach arbeitet. Er arbeitet etwa mit der deutschen Handball-Frauen-Nationalmannschaft zusammen und war früher unter anderem Teamarzt der Moskitos und von Tusem in Essen. Als Arzt begleitete er den ehemaligen deutschen Sprinter Roy Schmidt ins Karriereende und weiß aus eigener Erfahrung, dass „eine Begleitung sehr wichtig“ ist. Lübke Naberhaus spielte selbst Handball, bis eine Verletzung ihn zum frühen Karriereende zwang. Dem Sport ist er aber treu geblieben.
Nicht jeder geht so mit einem Karriereende um, einzelne Schicksale endeten tragisch. Der deutsche Wunderstürmer Gerd Müller verfiel nach seinem Karriereende und der Rückkehr aus den USA dem Alkohol. „Ich war wieder in Deutschland, und es war nichts los“, erinnerte sich Müller einmal. „Ich habe nichts gemacht, das war ja der Fehler. Wenn du da keine Arbeit hast, was sollst du dann tun? Dann ist der Tag lang.“ Auch die 2019 verstorbene finnische Skisprung-Legende Matti Nykänen stürzte ab, trank und saß im Gefängnis. Andere pflegten ihren luxuriösen Lebensstil weiter und gingen daran bankrott. Der ehemalige BVB-Keeper Eike Immel ging genauso pleite wie die deutsche Tennis-Legende Boris Becker. Dieser wurde sogar wegen Steuerhinterziehung verurteilt.
Um solche Abstürze zu verhindern, helfen neue Aufgaben. „Es hängt immer davon ab, wie sehr sich Sportler mit dem Leben nach der Karriere beschäftigt haben“, sagt Lübke Naberhaus. Viele Athleten und Athletinnen planen inzwischen zweigleisige Karrieren, denken an die Zukunft. „Man darf jedoch nie vergessen: Das Leben sieht auf einmal anders aus, als man es gewohnt war“, sagt der Arzt. Auch bei Nico Rosberg hat sich das Leben verändert. Er hatte damit begonnen, sein Geld in Startups zu investieren. Heute leitet er einen Wagniskapital-Dachfonds, die Rosberg Ventures. Eine Aufgabe, die ihn erfüllt, wie er sagt: „Wir investieren in die besten Wagniskapitalgeber und Startups der Welt und verbinden so die deutsche Wirtschaft mit den Innovationen von morgen. Für mich war das eine natürliche Entwicklung, in die Rolle des Unternehmers und Investors hineinzuwachsen.“ Er habe sich schon immer für Technik und Innovationen interessiert, nun könne er sein Wissen und auch sein verdientes Geld gewinnbringend einbringen in Unternehmen, die er für innovativ hält.
Nico Rosberg sprach nur mit Ehefrau über das Karriereende
Aber wie findet man eigentlich den richtigen Zeitpunkt als Sportler, um aufzuhören? „Das muss jeder Sportler mit meiner Begleitung für sich selbst herausfinden“, sagt Lübke Naberhaus. „Ich stelle aber unangenehme Fragen, mache mit ihnen den Realitäts-Check. Sie müssen letztendlich selbst für sich entscheiden, was sie wollen.“ Der ehemalige Rennfahrer Rosberg etwa traf die Entscheidung für sich allein. „Es musste meine Entscheidung sein, ganz allein. Es war diese Art von innerer Sicherheit, die dir niemand geben kann, außer du selbst“, sagt er. Seine Frau habe er mit einbezogen, sonst niemanden. Nicht einmal seine Eltern.
Was Nico Rosberg Sportlern beim Karriereende empfiehlt
„Ich würde sagen: Hör auf dein Bauchgefühl. Wenn du tief in dir spürst, dass es Zeit ist zu gehen, dann zögere nicht, diesen Schritt zu tun. Versuche, wenn du kannst, auf dem Höhepunkt abzutreten, solange du noch mit Freude und Stolz auf deine Leistungen blicken kannst. Bereite dich darauf vor, dass sich mit dem Ende deiner Karriere auch deine Identität verändert – das ist normal. Lass dich davon nicht erschrecken, sondern nutze diese Chance, dich neu zu erfinden. Überlege dir, was dich wirklich antreibt, was dich fasziniert, wenn die Scheinwerfer des Sports einmal ausgehen. Sei bereit, wieder ganz von vorn anzufangen, dich neuen Herausforderungen zu stellen und vielleicht auch Rückschläge hinzunehmen. Dabei ist es ganz gleich, ob du Unternehmer wirst, eine Familie gründest oder ein ganz anderes Projekt startest – Hauptsache, du brennst dafür. Und vor allem: Steh zu deiner Entscheidung. Zweifle nicht ständig daran, ob du den richtigen Zeitpunkt gewählt hast. Wenn es sich für dich richtig anfühlt, ist es auch richtig.“
Dass er mit dem Gewinn des WM-Titels in der Formel 1 perfekt abgetreten ist, war ein Glückfall für ihn. „Da war dieser Höhepunkt, den ich mir immer erträumt hatte, und ich wusste, dass es genau der richtige Zeitpunkt war. Dieses Gefühl, in meinem letzten Rennen jede einzelne Kurve bewusst wahrzunehmen, den Lärm, die Geschwindigkeit, das Adrenalin noch einmal ganz bewusst in mich aufzusaugen, war unbeschreiblich.“ Das perfekte Ende müsse aus seiner Sicht jedoch jeder selbst für sich definieren.
Experte: Karriereende muss jeder für sich definieren
Dass dies nicht immer leicht sei, weiß auch Lübke Naberhaus. Seiner Meinung nach müsse jeder Aktive für sich selbst entscheiden, wie die Gesamtsituation sei. „Hat er noch Lust am Sport? Kann und will er noch mithalten? Welche Ziele sind erreichbar? Und auch: Wie ist es um die Zeit nach der aktiven Karriere bestellt? Wenn sich Sportler immer nur über den Sport identifiziert haben, kann das dazu führen, dass sie in ein Loch, gegebenenfalls eine Depression bis hin zu einer Identitätskrise, fallen.“
Nicht selten versuchen sich Sportlerinnen und Sportler deshalb an Comebacks, oftmals mit dem Beispiel Michael Jordan im Hinterkopf. Aktuell wagen die Skistars Lindsey Vonn und Marcel Hirscher, dessen Rückkehr in den alpinen Skiweltcup nach einer Knieverletzung allerdings schon wieder vorbei ist, eine Rückkehr in das alte Leben. Beide wollten vor einigen Jahren nicht mehr, merkten aber, dass ihnen im Leben etwas fehlt - und kamen wieder.
Für Rosberg hingegen war ein Comeback nie ein Thema. „Ich hatte alles erreicht, was ich mir je erträumt hatte. Der WM-Titel war der perfekte Schlusspunkt, das Ziel, auf das ich mein Leben lang hingearbeitet hatte. Gleichzeitig war es auch der Zeitpunkt, wo ich mir neue Ziele, neue Prioritäten setzen wollte“, sagt er. „Das Kapitel ist vorbei, ein für allemal. Ich wollte nicht mehr der Rennfahrer, sondern vor allem Ehemann und Vater sein. Ich wollte meine Familie, die in all den Jahren so viel Verständnis gezeigt und so oft auf mich verzichtet hatte, endlich in den Mittelpunkt stellen.“
Das Leben nach dem Sportlerleben ist noch lang genug und bietet eine Menge Möglichkeiten. Auch diese Punkte sollten bei einem Karriereende immer berücksichtigt werden.