Essen. Hellmut Krug hat den VAR mitentwickelt und beklagt nun zu viele Eingriffe. Er warnt vor der Challenge. Doch wie soll das System besser werden?
Im Jahr 2017 erinnerte der Begriff Corona die meisten Deutschen noch an eine Biersorte; in diesem Jahr wurde Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten ernannt, Donald Trump als Präsident der USA vereidigt, Ed Sheeran stürmte die deutschen Charts. Und dann gab es da noch eine technische Hilfe, die in der Bundesliga eingeführt wurde, um, so die Hoffnung, den Fußball fairer zu machen. Der Video Assistent Referee, kurz VAR, sollte dazu führen, dass die Diskussionen über die Schiedsrichterleistungen abnehmen.
Nun ja.
Heute sagt der ehemalige Spitzenschiedsrichter Hellmut Krug, 68, der als Projektleiter den Videobeweis mit ausgetüftelt hat und später aufgrund nie bewiesener Manipulationsvorwürfe abgesetzt wurde, im Gespräch mit dieser Redaktion: „Durch die Einführung des VAR hätten die Schiedsrichter eigentlich besser werden sollen. Leider ist das häufig nicht der Fall. Die Schiedsrichter wirken mitunter verunsichert und scheinen viel zu oft auf eine Reaktion des VAR zu warten, sie wirken bisweilen fremdbestimmt.“
DFB stellt klar: Der VAR hilft den Schiedsrichtern
Denn in Wahrheit haben Wut und Unverständnis durch den VAR zugenommen. Es mehreren sich die Stimmen, die eine Abschaffung der Technik fordern. Es gibt Vorschläge, durch eine sogenannte Challenge das System zu verbessern. Einig sind sich eigentlich alle, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Nur: Was kann helfen?
Es hilft zunächst, die einzelnen Debatten, die in all der Aufregung wie ein großes Wollknäuel aus Vorwürfen erscheinen können, zu entknoten. Diskutiert wird einmal über die Anzahl der Eingriffe, zudem über ungenaue Abseitslinien und zusätzlich über den vermeintlichen Unsinn, dass ein Platzverweis durch Gelb-Rot nicht zurückgenommen werden kann.
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) stellt auf Nachfrage klar, dass „der VAR in jedem Fall hilft, die Zahl der potenziell spielentscheidenden Fehler der Schiedsrichter zu reduzieren. Eine weitere positive Folge des VAR: Die Zahl der Tätlichkeiten und Schwalben ist deutlich zurückgegangen, auch Abseitstore – und fälschlich wegen eines vermeintlichen Abseits annullierte Tore – gibt es nicht mehr.“
Hellmut Krug kritisiert Schiedsrichter-Chef Knut Kircher
Wobei hier schon eingewendet werden muss, dass bei den manuell erstellten Abseitslinien „den Zuschauern eine Genauigkeit vorgegaukelt wird, die es nicht gibt“, sagt Hellmut Krug. Zuletzt wurde dies im Dortmunder Stadion offensichtlich, da grätschte St. Paulis Morgan Guilavogui in den Ball und drückte diesen über die Torlinie. Die Führung? Nein! Abseits ergab die Linie des VAR, wobei diese wohl zu spät gezogen wurde. Borussia Dortmund atmete auf, siegte 2:1, ärgerte sich aber darüber, dass der VAR beim zweiten Tor von St. Pauli, das diesmal zählte, nicht eingegriffen hatte. Oladapo Afolayan hatte im Abseits gestanden. Die Frage lautete: passiv oder aktiv?
Das größte Unverständnis erzeugte am selben Spieltag aber ein Zweikampf zwischen Bayer Leverkusens Jonathan Tah und Eintracht Frankfurts Hugo Ekitiké. Leverkusen führte in der Nachspielzeit 2:1, Ekitiké rannte aufs leere Tor zu, Tah rempelte ihn beim Kopfballversuch, Ekitiké fiel. Ein Elfmeterpfiff? Blieb aus.
„Für mich war es ein Foulspiel. Aber das hätte der Schiedsrichter auf dem Platz entscheiden müssen. Der VAR hingegen hat sich wegen der bestehenden Restzweifel aus dieser Situation zu Recht herausgehalten“, meint Hellmut Krug. Er höre ganz häufig die Frage: „Warum schaut es sich der Schiedsrichter nicht wenigstens noch mal an?“ Dies sei der falsche Ansatz. Wenn man das System retten wolle, dann müsse man sich wieder auf die ursprüngliche Idee besinnen und nur bei klaren Fehlentscheidungen eingreifen. „Anhand von Beispielen muss der Öffentlichkeit aufgezeigt werden: Wo erwarten wir Eingriffe und wo nicht“, meint Krug. Aber: „Wir haben einen neuen Schiedsrichterchef, der stellt sich hin und sagt, alles sei richtig. So kriegt man keine Klarheit.“
Seit dem Juli dieses Jahres arbeitet Knut Kircher, 55, als Schiedsrichter-Chef. In dieser Funktion hat er sich der Einführung einer Challenge nicht verwehrt, diese würde davor sorgen, dass Trainer die Möglichkeit hätten, Entscheidungen überprüfen zu lassen. Hellmut Krug hält dagegen: „Ich warne vor der Challenge. Sie wird für keine Befriedung sorgen. Am Ende wird die Entscheidung häufig nicht so ausfallen, wie man sich das vorstellt.“
DFB denkt über Verbesserungen nach
Und dann gibt es noch die Frage nach der Überprüfung von Gelb-Rot. So ein Platzverweis kann vom VAR nicht zurückgenommen werden. Eine Änderung müsste das International Football Association Board, das über die Regel bestimmt, beschließen. Das Problem: Wenn jede Entscheidung für Gelb-Rot überprüft werden soll, müsste umgekehrt auch jede Situation gecheckt werden, in der Gelb-Rot möglicherweise angebracht wäre, also bei verwarnten Spielern fast jeder Zweikampf.
Es bleibt daher kompliziert. Beim DFB wird darüber beraten, ob Entscheidungen künftig auf den Videowänden gezeigt werden sollen oder ob der Schiedsrichter sie selbst im Stadion begründet. Eines aber lässt sich nicht ändern: Vieles bleibt im Graubereich. Hellmut Krug meint: „Es wäre falsch und undenkbar, den VAR wieder komplett abzuschaffen. Schon morgen gäbe es eine haarsträubende Fehlentscheidung und die ließe sich nicht mehr korrigieren.“ Was derzeit im DFB-Pokal zu sehen ist, dort gibt es in den ersten beiden Runden keinen Videobeweis.
Und abstellen lassen werden sich die Debatten nie. Das heißt: 2017 wurde diskutiert, 2024 wird diskutiert, 2031 wird diskutiert werden.