Herzogenaurach. Innerhalb von zwei Jahren haben vier Spätstarter-Stürmer in der Nationalmannschaft debütiert. Nun kommt am Freitag ein fünfter dazu.
Tim Kleindienst ist kein Mann der Was-wäre-wenn-Fragen. Und doch drängt sich bei dem neuen Mittelstürmer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft die Frage auf, was wäre wenn? Oder genauer gesagt: Wo wäre er, wenn er im Mai 2023 in der neunten Minute der Nachspielzeit des Zweitligaspieles zwischen Jahn Regensburg und dem 1. FC Heidenheim nicht das entscheidende 3:2 geschossen hätte? „Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Am Ende war der Ball drin“, sagte Kleindienst am Mittwochmittag im DFB-Quartier in Herzogenaurach auf Nachfrage dieser Redaktion und lachte lautstark.
Der Ball war drin, Heidenheim stieg anstelle des Hamburger SV in die Bundesliga auf und Kleindienst startete in das beste Jahr seiner Karriere. Er schoss Heidenheim mit zwölf Toren auf Anhieb in den Europapokal, durfte sich dank eines Doppelpacks Bayern-Besieger nennen und wechselte im Sommer schließlich für eine Ablösesumme von sieben Millionen Euro zu Borussia Mönchengladbach. Auch dort schlug er mit drei Toren in sechs Spielen bislang ordentlich ein, wie es Julian Nagelsmann vor einer Woche formulierte.
Kleindienst gegen Bosnien vor DFB-Debüt
Der Bundestrainer hat Kleindienst überraschend für die beiden Nations-League-Spiele am Freitag in Bosnien (20.45 Uhr/RTL) und am Montag gegen die Niederlande (20.45 Uhr/ZDF) erstmals für die Nationalmannschaft nominiert. Weil die beiden etatmäßigen DFB-Stürmer Kai Havertz und Niclas Füllkrug verletzt ausfallen, wird Kleindienst aller Voraussicht nach sein Länderspieldebüt feiern. Und das im Alter von 29 Jahren. „Es ist etwas ganz Besonderes und zeigt, dass es auch möglich ist für Spätzünder, wenn du immer weiter Leistungen bringst und daran glaubst“, sagte Kleindienst drei Tage vor dem Bosnien-Spiel.
Was klingt wie eine Cinderella-Story, wird in der deutschen Nationalmannschaft zunehmend zum Serienformat. Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass Füllkrug mit Werder Bremen in die Bundesliga aufstieg, Torschützenkönig wurde und mit 29 Jahren sein DFB-Debüt feierte. Mittlerweile hat der neue Stürmer von West Ham United 14 Tore in 22 Länderspielen erzielt. Innerhalb eines Jahres brachte er Bremen (17 Millionen Euro) und Borussia Dortmund (27 Millionen Euro) zwei Ablösesummen ein, von denen man im Zusammenhang mit Füllkrug vorher nur fantasieren konnte.
Behrens und Ducksch statt Arp und Moukoko
Gleichzeitig zeigen die beiden Beispiele, dass Mittelstürmer heutzutage wie ein guter Wein offenbar erst einige Jahre reifen müssen, ehe sie sich zu etwas besonders Wertvollem entwickeln. Während vor einigen Jahren noch Jungprofis wie Fiete Arp oder Youssoufa Moukoko als neue Heilsbringer in den deutschen Stürmerhimmel geschrieben wurden, nominierte Nagelsmann im vergangenen Jahr nacheinander Kevin Behrens (33), Marvin Ducksch (30) und Deniz Undav (28) für die DFB-Auswahl. Und auch über HSV-Stürmer Robert Glatzel (30) soll Nagelsmann vor einem Jahr zumindest mal nachgedacht haben. Ist 30 das neue 20?
„Man erkennt eine Tendenz“, sagte nun auch Kleindienst über die Spätentwickler im Sturm. „Warum das so ist, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist am Ende der 20er die Erfahrung so groß, dass du anders agierst und besser bist als in den Jahren davor, in denen man noch etwas grün hinter den Ohren war.“
Deutschland mit Fehlern in der Stürmerausbildung
Andererseits zeigen die Beispiele Behrens, Ducksch oder Kleindienst auch, dass im deutschen Fußball bei der Ausbildung von Mittelstürmern in den vergangenen 20 Jahren etwas schief gelaufen ist. „Wir wollten irgendwann wie die Spanier Tikitaka spielen. Mit einer falschen Neun“, kritisierte Sturmlegende Horst Hrubesch vor wenigen Wochen im Interview mit dieser Redaktion. Hrubesch war selbst ein Spätstarter in der Nationalmannschaft, arbeitete mit 24 Jahren noch als Dachdecker. Der 73-Jährige gilt bis heute als Verfechter des klassischen Mittelstürmers. „Du brauchst immer auch mal den echten Neuner für die Druckphasen, wenn auch mal ein langer Ball gespielt wird.“
Am Freitag gegen Bosnien dürfte diese Aufgabe zunächst Deniz Undav übernehmen. Der Stürmer des VfB Stuttgart hat vor fünf Jahren noch in der Regionalliga gespielt, nun ist er in Abwesenheit von Havertz und Füllkrug Deutschlands Stürmer Nummer eins. Erster Ersatzkandidat ist Kleindienst. Der sagt über die Renaissance der Neuner: „Man sieht die Tendenz, dass wieder viel zu den klassichen Mittelstürmern zurückgekehrt wird, weil es dem Spiel einfach guttut. Auch wenn sie nicht immer so viel teilhaben am Spiel. Aber sie können da sein, wenn sie es müssen. Das ist eine Qualität, die heute wieder mehr gefragt ist und die vor ein paar Jahren etwas abgenommen hat.“
Auch Burkardt könnte sein Debüt geben
Kleindienst nennt Miroslav Klose als Vorbild. Der Weltmeister von 2014 ist ebenso der Held von Jonathan Burkardt. Der 24-Jährige vom FSV Mainz 05 wurde ebenfalls für die Nationalelf nachnominiert und wirkte am Mittwoch beim Medientermin in Herzogenaurach mit seinen 1,81 Metern neben Kleindienst (1,94) wie ein kleiner Schüler, der das erste Mal mit den Älteren spielen darf. Burkardt ist mit fünf Treffern aktuell aber der erfolgreichste deutsche Stürmer der Bundesliga. Kein klassischer Neuner, aber ein Stürmer mit Potenzial und Perspektive. So wie eigentlich auch Dortmunds Maximilian Beier, der diesmal zur U21 geschickt wurde.
Im Gegensatz zu Kleindienst ist Burkardt ein echter Frühstarter. Zunächst aber hat Kleindienst die besseren Karten. Und das, obwohl er seine Nominierung beinahe verpasste. Als Nagelsmann ihn zweimal anrief, war der Mönchengladbacher gerade Pflanzen kaufen bei Obi. Beim dritten Versuch klappte es dann. Kleindienst hat gelernt, dass es nie zu spät ist. Auch nicht, wenn der Bundestrainer anruft.