Essen. Sami Khedira sorgt sich um den deutschen Fußball. Der Weltmeister von 2014 plädiert für Reformen. Und er hat ein neues Projekt.
Sami Khedira macht sich Gedanken um den deutschen Fußball. Aber nicht nur um den an der Spitze. Der 37-Jährige ist Botschafter des Bolzplatz-Duells, das Mädchen und Jungen im Alter von elf bis 13 Jahren in Nordrhein-Westfalen Spaß an Bewegung vermitteln soll. Doch auch das große Ganze hat der Weltmeister von 2014 im Blick. Er fordert Reformen in der Nachwuchsausbildung – damit auch die deutsche Nationalmannschaft, die am Montag in Herzogenaurach für die beiden Nations-League-Spiele in Bosnien-Herzegowina am Freitag und drei Tage später in München gegen die Niederlande zusammengekommen ist, konkurrenzfähig bleibt.
Wie ging es in den 1990er-Jahren und rund um die Jahrtausend-Wende auf den Stuttgarter Bolzplätzen zu, Herr Khedira?
Bei uns in der Schule war der Bolzplatz ein Käfig. Einer mit zwei Handballfeldern und einer Tartanbahn drumherum. Wir haben aber auch auf der Straße oder auf dem Spielplatz gekickt. Die Älteren haben bestimmt, wer mitspielen durfte. Und wenn wir zuerst da waren, haben sie versucht, uns zu verscheuchen, indem sie ihre Bälle auf das Feld geschossen haben.
Kling hart.
Ich glaube, das ist völlig normal. Irgendwann durften wir mitspielen, Jung und Alt gemischt. Das waren dann die Duelle, in denen du dir die Akzeptanz geholt hast. Den Respekt und die Wertschätzung verschaffst du dir nicht über Sprüche, das Alter, das Aussehen – oder die Schuhe, die du trägst. Das wäre mir auch gar nicht möglich gewesen, da ich in bescheidenen Verhältnissen ohne große materielle Möglichkeiten aufgewachsen bin. Ich musste also auf andere Weise glänzen.
Wie?
Ich war klein, aber trotzdem relativ robust für mein Alter. Und damit habe ich mich gegen zwei, drei Jahre ältere Jugendliche durchgesetzt. Wenn mir das gelungen ist, hat es mich immer mit Glück und Stolz erfüllt, solche Momente waren auch ein Stück weit prägend.
Wie wichtig waren die Bolzplatz-Erfahrungen für Ihre spätere Profikarriere?
Sehr wichtig, obwohl ich meine Ausbildung beim VfB Stuttgart, einem sehr gut geführten Bundesligaverein, genossen habe. In jungen Jahren, im Alter von etwa acht bis zehn Jahren, hast du zwei- oder dreimal in der Woche Training, am Wochenende noch ein Spiel oder ein Turnier. Dazwischen aber liegen ja drei, vier Tage – und die habe ich nonstop auf dem Bolzplatz verbracht. Viele werden es nachempfinden können: Mama ruft, weil das Essen fertig ist, du bist da aber noch unten auf der Straße am Bolzen und kommst mal wieder eine halbe Stunde zu spät – so war es auch bei mir. Teilweise hatte ich auch ein Verbot von meinem Papa bekommen.
Sami Khedira spricht über Bedeutung des Bolzplatzes
Um fit für das VfB-Training zu sein oder weil die eine oder andere Hausaufgabe liegen geblieben ist?
(lacht) Ich glaube, sowohl als auch. An einem bestimmten Punkt in der Jugend wird der Anspruch höher, er wollte natürlich, dass ich mich in der Zwischenzeit ausruhe. Aber vielleicht vergisst man im Alter ein bisschen, dass Kinder sehr viel Energie haben. Ich habe da nichts verpulvert. Ich muss gestehen: Wenn mein Papa arbeiten war, habe ich es meist doch heimlich geschafft, draußen zu spielen.
Das ist das Bolzplatz-Duell
- Das Bolzplatz-Duell ist ein Projekt in Nordrhein-Westfalen für Mädchen und Jungen im Alter zwischen elf und 13 Jahren. Ein Team besteht aus drei Spielerinnen oder Spielern, die gegeneinander in Einzel-Duellen antreten. Jedes Spiel hat somit drei Duelle.
- Das Spielfeld ist 10 x 7 Meter groß und hat an den beiden kurzen Seiten des Spielfelds jeweils ein Tor, welches circa 1,80 Meter breit und 1,20 Meter hoch ist. Vor jedem Tor befindet sich ein Torraum, der von keinem Spieler betreten werden darf.
- Die Finalrunde wird am 16. November in Oberhausen ausgetragen. Zu gewinnen gibt es unter anderem ein Probetraining im Nachwuchsleistungszentrum zweier Bundesligisten.
Sie engagieren sich nun für das Projekt Bolzplatz-Duell. Was überzeugt Sie daran?
Ich bin zwar Schwabe, aber ich unterstütze trotzdem diese Eins-gegen-Eins-Meisterschaft in NRW, weil sie erstmal zeigt, dass Fußball verbindet und sie zudem den Teamgedanken fördert, indem die Kids sich im Dreier-Team fortwährend beim Dribbel-Duell abwechseln. Zweitens vermittelt der Bolzplatz viele wichtige, auch soziale Werte. Man braucht nicht viel beim Bolzen: Da kann man auf einer von der Stadt gestellte Anlage spielen oder einfach auf einer Spielstraße, auf der zwei Steine, Flaschen oder Getränkepackungen die Torpfosten bilden. Es gibt keinen Schiedsrichter, die Kinder und Jugendlichen machen ihre Regeln selbst. Du lernst ein Miteinander, Teamgeist, Durchsetzungsvermögen, Respekt und Loyalität. Klar, Trainer und Erwachsene sind von großem Mehrwert, wenn sie Nachwuchsfußballer richtig handhaben, wenn sie diese auch zur Eigenständigkeit und zum selbstbewussten Kicken anleiten. Leider passiert das aber häufig in den Vereinen zu wenig.
Inwiefern?
Trainer wollen selbst zu viel mitmischen, zu viel vorgeben, auch während des Spiels zu viel entscheiden. Wir hingegen sind überzeugt davon, die Kinder einfach spielen zu lassen. Das hat bisher bei den Regionalfinals des Bolzplatz-Duells auch super geklappt: Da gab es keine taktischen Vorgaben oder Einschränkungen – die Kids konnten und können einfach drauf los dribbeln und tricksen, wie sie wollen. Das Bolzplatz-Duell-Projekt ist deshalb nicht nur notwendig für den Breitensport, sondern auch dann hilfreich und interessant, wenn es mal irgendwann für die Kids Richtung Elitensport geht. Ich bin deshalb auch wirklich gespannt auf die Endrunde am 16. November in Oberhausen, wenn die besten Teams und Dribbler aufeinandertreffen – mal schauen, ob da vielleicht ein kleiner Musiala dabei ist! (lächelt)
Das ist aber nicht der einzige Grund für Ihre Unterstützung des Bolzplatz-Duells, oder?
Mich hat von Anfang an überzeugt, dass das Bolzplatz-Duell sich das Motto „Kinder helfen Kindern“ auf die Fahnen geschrieben hat. Mit Hilfe der Förderer, Sponsoren sowie vieler prominenter Unterstützerinnen und Unterstützer werden am Ende die Gewinne dieses Events Kinderhilfsprojekten zur Verfügung gestellt. Die renommierte Stiftung „It‘s for Kids“ verteilt dann die Gelder. Eine tolle Aktion! Hoffentlich stoßen im nächsten Jahr noch mehr Sponsoren dazu, um dann noch mehr für den guten Zweck einsammeln zu können! Denn bei aller Begeisterung für unseren großartigen Sport dürfen wir nicht vergessen, dass laut Studien mehr als jedes fünfte Kind in unserem Land noch immer von Armut bedroht ist!
Sami Khedira über Nachwuchsförderung in Deutschland
Viele Vereine beklagen, dass es immer schwieriger wird, Kinder und Jugendliche für Teamsport zu begeistern, weil andere Hobbys wie Gaming immer größer werden.
Wir haben damals auch an der Konsole gespielt, und ich halte das auch per se für nichts Schlechtes, wenn man etwa Fußballsimulationen spielt. Das kann sogar kognitiv fördernd sein, wenn du das echte Spiel dadurch besser verstehst. Natürlich gibt es auch da eine Grenze. Wenn man sich wenig bewegt und ungesund ernährt, ist das nicht cool. Mir gefallen daher die von anderen Fußballern, Musikern, Streamern oder YouTubern initiierten neuen Kleinfeld-Ligen. Man darf sie nicht als Konkurrenz zum Fußball, den wir kennen, verstehen. Es ist eher ein Schulterschluss. Sie können helfen, Kinder und Jugendliche aus ihren Szenen für Sport zu überzeugen. Und ich bin sicher nicht derjenige der sagt, es muss unbedingt Fußball sein.
Blicken wir auf den Profisport. In Deutschland sehnen sich die Leute nach Spielern wie Jamal Musiala oder Florian Wirtz, klassische Straßenfußballer. Was muss sich in der Talententwicklung ändern, damit wir sie finden und ausbilden können?
Straßenfußball heißt ja nicht, dass ich ein Kind einfach nur auf die Straße stelle. Es ist ein Synonym für Instinktfußball, eigenständiges Handeln, aber da werden auch die Basics wie Dribbeln, Ball-An- und -mitnahme, Pässe, Flanken, Schusstechnik spielerisch und automatisch entwickelt oder verbessert. Ich frage mich: Warum kann man solche Spielertypen nicht auch in einem NLZ oder einem Amateurklub ausbilden? Wir haben jetzt immerhin schon mal die DFB-Trainingsreform, spielen auf kleinem Feld mit vielen Ballkontakten – das ist der richtige Weg. Diese Entwicklung unterstützen wir ja auch mit unserer Bolzplatz-Duell-Initiative. Viel entscheidender sind aber Änderungen am System, das die Kinder ausbildet, genauer: Bei der Rolle der Trainer beziehungsweise der NLZ-Trainer muss man anfangen – und dabei ebenfalls die Rolle der Eltern neu definieren.
Wie könnte das aussehen?
Je höher die Altersklasse, desto mehr Geld verdienen die Trainer. Bedeutet: Es ist weniger lukrativ, im Bereich der U14 oder U15 zu arbeiten, dieser aber ist genauso relevant für den Ausbildungserfolg wie die U17 oder U19. Wie mache ich als ambitionierter Trainer auf mich aufmerksam, wenn ich befördert werden will, um eine ältere Mannschaft zu übernehmen und mehr Geld zu verdienen? Durch Teamerfolg wie Aufstiege. Dabei wird aber meist die Arbeit an den beschriebenen individuellen Grundlagen vernachlässigt, die Kinder haben im Training weniger Ballkontakte, und irgendwann verlieren sie die Lust. Meines Erachtens waren wir zu meiner Zeit in der Jugend freier, waren weniger taktischen Zwängen unterworfen. Und nur bei einer gewissen individuellen fußballerischen Freiheit entwickeln sich doch dann auch die von vielen Experten heute geforderten „Straßenkicker“. Um diese insgesamt negative wie hemmende Entwicklung im Jugendbereich zu verhindern, muss das Geld anders verteilt werden.
Sami Khedira über die deutsche Nationalmannschaft und das neue Mittelfeld
Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahren rasant verändert, ist schneller geworden. Dennoch sprechen wir letztlich immer über Grundlagen wie Technik. Warum?
Natürlich ist die Athletik auch aufgrund von medizinischem und wissenschaftlichem Fortschritt besser geworden, das ist ein Teil der Antwort. Wenn allerdings jeder Spieler auf dem Platz einen perfekt getimten Pass mit der richtigen Schärfe spielen kann, dann kann auch ein austrainierter Gegenspieler diese Lücke irgendwann nicht mehr zulaufen. Deswegen ist ja die Grundlagenausbildung unheimlich wichtig, die Positionierung und Spezialisierung erfolgt erst viel später. Ich selbst hätte mir etwa gewünscht, dass mein linker, schwächerer Fuß von den Trainern noch mehr in den Fokus meiner Ausbildung gerückt worden wäre. Nicht beidfüßig zu sein, ist heute ein Ausschlusskriterium – außer man spielt Außenristpässe wie Luka Modric. Wichtig ist, dass wir die Probleme nicht nur erkennen, sondern Lösungen dafür finden und auch umsetzen. Spanien, England und Frankreich haben hier teilweise individuelle Vorteile.
Gilt das auch für Ihre einstige Position im zentralen Mittelfeld in der deutschen Nationalmannschaft?
Wir sind vor allem mit dem Trainerteam gut aufgestellt, das bisher nicht nur die richtigen Worte findet, sondern auch Taten folgen lässt. Im Großen und Ganzen sehe ich uns auf einem guten Weg. Wir haben mit Pascal Groß und Robert Andrich zwei erfahrene Spieler. Dahinter hat Angelo Stiller eine enorme Entwicklung genommen. Sein Passspiel und das Gefühl für den Raum sind schon top. Da muss man jetzt weiter beobachten, wie seine Entwicklung vielleicht auch mal ohne Sebastian Hoeneß ist und wie er sich nun in der Champions League schlägt. Er ist aber auf jeden Fall ein Typ, der das Spiel aufbauen und lesen kann, der Taktgeber sein kann. Aleksandar Pavlovic ist mir schon vor zwei Jahren in der U19 von Bayern München aufgrund seiner Persönlichkeit aufgefallen. Ich durfte mich öfter mit ihm austauschen, er ist sehr wissbegierig und ist gleichzeitig bescheiden.
Vor der Europameisterschaft ist viel über den vermeintlichen Niedergang des deutschen Fußballs geschrieben und gesprochen worden. Die Leistung bei der EM hat einiges wieder in ein anderes Licht gerückt. Dennoch eine plakative Frage: Wie schlimm steht es denn wirklich?
Es bleibt dabei: Wir haben ein Defizit in der Breite der Topspieler. Und das holst du nicht in ein oder zwei Jahren auf. Immerhin wurden die Probleme erkannt, es wurde versucht, dagegen zu steuern. Wir werden immer konkurrenzfähig sein, bei der EM haben schließlich nur Nuancen gefehlt, um womöglich das Turnier sogar zu gewinnen. Das aber darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns im U-Bereich für viele Turniere nicht qualifiziert haben, der WM- und EM-Titel der U17 war ein Ausreißer. Und wer wird es dann zum Beispiel aus diesem WM-Kader letztendlich überhaupt zum Profi schaffen? Wir könnten auch noch weitergehen und die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, den Leistungsdruck rauszunehmen, indem es – wie nun in der U17 und U19 umgesetzt – keine Abstiege mehr gibt. Ich meine, dass wir in dieser Altersklasse Wettbewerb brauchen, um die Spieler auf den brutalen Druck des Profisports vorzubereiten.
Sie könnten doch einen Posten im Verband bekleiden, um diese Probleme anzugehen, oder?
(lächelt) Ich hatte – das wurde ja auch öffentlich bekannt – schon Gespräche mit dem DFB, die auch gut und ehrlich waren. Am Ende hatten wir jedoch etwas unterschiedliche Ansichten, was aber überhaupt nicht schlimm ist. Ich bin aktuell mit meiner bewusst so gewählten Lebenssituation – unabhängig davon – auch sehr glücklich und dennoch großer Fan der deutschen Nationalmannschaft.