Essen. Einer der besten deutschen Fußballer, der erste Popstar auf dem Platz, wird 80. Viele sahen in ihm aber etwas, dass er nie war.
Die Leitung in die Schweiz wackelt, bricht ab, es rauscht, dann ertönt da wieder diese wohlbekannte, angenehme Stimme von Günter Netzer, die sofort Erinnerungen hervorruft. Wie er als TV-Experte im schwarzen Anzug neben Gerhard Delling im ARD-Studio steht und die deutsche Nationalmannschaft charmevoll kritisiert. Oder wie er als Nummer 10 viele Jahre zuvor mit langen Haaren und riesigen Füßen über den Platz schreitet, aus der Tiefe des Raumes kommend, in einer Zeit, in der Spielgestalter wenig laufen mussten, dafür aber das gesamte Offensivspiel an ihren Ideen hing.
An diesem Samstag wird dieser Günter Netzer 80 Jahre alt, einer der größten deutschen Fußballer, der seine Faszination aber auch aus dem zieht, was die Gesellschaft in ihn hineininterpretiert hat. Netzer war der erste Popstar auf dem Rasenplatz, in seiner Diskothek Lover‘s Lane (kann eine Disco besser heißen?) traf sich die Prominenz der immer noch jungen Bundesrepublik. Netzer posierte in engen Oberteilen mit Schlaghose auf schnellen Autos, er hob den prolligen Fußball in den Kulturteil, seine wehenden Haare verschreckten das Kleinbürgertum, und all das in einer Zeit, in der sich die 68er daran machten, das Land umzukrempeln.
Günter Netzer - Revoluzzer und Geschäftsmann
Netzer wirkte wie einer von ihnen, wie ein Linker, ein Revoluzzer, eine glamouröse Figur, und war aber eher ein guter Geschäftsmann mit Freude am Leben, der später vor allem für seinen Handel mit TV-Rechten auch kritisiert werden sollte. Der gebürtige Mönchengladbacher polarisierte, brachte die Älteren gegen sich auf, ließ die Jüngeren von ihm schwärmen.
In den 1970er-Jahren, hat die Moderatorenlegende Frank Elstner, 82, einmal erzählt, „wollten wir alle sein wie er“.
Grimmepreis für Netzer und Delling
Die Leitung steht wieder. „Sie müssen mir doch sagen, wenn ich nicht zu hören bin, damit ich neu anfangen kann“, brummt Netzer ins Telefon hinein und klingt dabei so, als würde er gerade Gerhard Delling zurechtweisen. Für ihre TV-Analysen, bei denen sie sich von 1998 bis 2010 siezten und freundlich neckten, erhielten beide den Grimme-Preis.
„Die 80 scheint eine magische Zahl zu sein“, wiederholt Netzer nun, „jetzt fragen viele, ob ich zufrieden damit sei, wie das Leben verlaufen ist. Der Fußball hat mir alles gegeben. Ich war äußerst privilegiert, deswegen bin ich dankbar und demütig.“
Günter Netzer: Von Mönchengladbach nach Madrid
Es gibt ein Bild, da sitzt Netzer, die Haare sind schon lang, wie ein Fremdkörper im Wohnzimmer seiner Eltern, blättert in einem Fotoalbum. Auf dem Tisch liegt eine Blümchendecke, in einem braunen, schweren Glasschrank steht Porzellangeschirr, weiße Gardinen hängen im Fenster. Spießig, so hätte die aufbegehrende Jugend diese Einrichtung damals genannt. Hier wuchs er als Einzelkind auf, der Vater war Samenhändler, die Mutter hatte einen Lebensmittelladen, und Netzers Leben hätte ähnlich unspektakulär verlaufen können, wäre da nicht der Bolzplatz um die Ecke gewesen.
Der Fußball katapultierte ihn in die Glamourwelt. Mit seiner Technik, seiner Übersicht kletterte Netzer aus der Jugend in die erste Mannschaft von Borussia Mönchengladbach, entwickelte sich unter Trainer Hennes Weisweiler zum Fixpunkt der legendären Fohlenelf, die sich mit dem FC Bayern ein Duell um die deutsche Vorherrschaft lieferte. Zwei Meistertitel sammelte Gladbach mit Netzer, einen Pokalsieg, bei dem er sich im Finale selbst einwechselte und traf. 1973 zog es den Zehner zum großen Real Madrid, dort wurde er ebenfalls zweimal Meister, holte zweimal den spanischen Pokal. Die Karriere endete beim Grasshopper Club Zürich. Weiter ging es von 1978 bis 1986 als Manager des Hamburger SV, wo er die erfolgreichste Zeit des Klubs im Norden Deutschlands gestaltete. Heute lebt der Vater einer Tochter mit seiner Frau in der Schweiz.
Günter Netzer: Gut aufgepasst in der Lebensschule
Deswegen rauscht es nun wieder in der Leitung, nur vereinzelte Sätze dringen durch. „Ich habe nie den Boden unter den Füßen verloren“, erzählt Netzer. Ist er denn ein Symbol dafür, wie sich die Bundesrepublik im Laufe der Jahre aus dem „Muff von 1000 Jahren“ befreit hat? „So weit würde ich nicht gehen. In jungen Jahren war das alles eine große Sache für mich, und der Fußball war wie eine Lebensschule. Ich habe gut aufgepasst.“
Trotzdem gehört zum Mythos Günter Netzer seine Lebensweise, durch die überdeckt wird, dass er in der deutschen Nationalmannschaft nie diese Tragweite hatte, die er aufgrund seines Talents eigentlich hätte haben müssen. Seinen größten Auftritt hatte er bei der Europameisterschaft 1972, als Netzer im Viertelfinale gegen England traf und eine deutsche Mannschaft anführte, die so gut spielte wie noch nie und erstmals im Wembley-Stadion siegte. Deutschland wurde Europameister, zwei Jahre später Weltmeister. Bei der WM im eigenen Land bekam jedoch Wolfgang Overath den Vorzug vor Netzer.
Günter Netzer: Völlig im Reinen mit sich
Daher fragte Delling einmal: „Wo waren Sie am 7. Juli 1974?“ Netzer: „Im Stadion, mein Gott. Nur leider hat man mich nicht spielen lassen.“ Delling: „Ich frage das nicht, um Sie zu ärgern.“ Netzer: „Doch!“ Heute provoziert es kaum noch jemanden, wenn Fußballer lange Haare tragen. Die deutsche Nationalmannschaft ist so bunt wie noch nie, die Gesellschaft hat sich liberalisiert, sich verändert, ein pinkes Trikot aber, das gehört zur Wahrheit, löst immer noch Debatten aus.
Zurück zum Telefonat. Joe Biden hatte mit über 80 Jahren lange den Plan, noch einmal Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Was soll also bei ihnen noch kommen, Herr Netzer? „Alles hat sich erfüllt, was ich mir erträumt habe. Und durch meine Tochter, sie ist immer noch die Prinzessin des Hauses, ist mein Glück vollkommen.“
So spricht kein Revoluzzer, da erzählt jemand, der mit sich im Reinen ist.