New York. Alexander Zverev träumt immer noch von einem Grand-Slam-Titel. Am Montag tritt er wieder in New York an. Seine Rolle ist nicht klar.

Vor zehn Jahren erlebte Alexander Zverev zum ersten Mal das ganz normale Chaos bei den US Open. Hinter dem Außencourt, auf dem er in der zweiten Qualifikationsrunde gegen den Türken Marsel Ilhan antrat, quietschten die Pressen der Müllabfuhr, der alltägliche Flugzeuglärm dröhnte über seinem Kopf. Und wie immer drangen lautstarke, manchmal auch spöttische Kommentare der umherwandernden Zuschauer an seine Ohren. „Du wusstest gar nicht, wie du dich da konzentrieren solltest. Das war schon eine Herausforderung“, sagt der Hamburger über sein Debüt im Jahr 2014. Gegen Ilhan, damals die Nummer 144 der Rangliste, verlor er schließlich im Tiebreak des dritten Satzes, geknickt und demoralisiert schlich der schlaksige Teenager weg.

Inzwischen ist er schwarz auf weiß einer der Großen und Starken der Branche, von der Peripherie des Billie Jean King Centers hat es ihn längst auf die Hauptplätze der Grand Slam-Welt verschlagen. Auch an diesem Monatg, genau ein Jahrzehnt nach seinem Erstlings-Gastspiel im Big Apple, darf er gegen Landsmann und Lucky Loser Maximilian Marterer gleich auf dem modernen Grandstand ran, vor gut 8.000 erwartungsfrohen Tennisfreunden. Doch was und wer ist der 27-jährige deutsche Frontmann bei diesen Offenen Amerikanischen Meisterschaften 2024, bei seinem mittlerweile 35. Anlauf zum großen Pokalcoup: Einer der Topfavoriten? Ein ambitionierter Spitzenprofi, der aber nicht in der allerersten Liga der Titelanwärter mitspielt? Ein Mann, der in New York auch an der traumatischen Last seines Finalscheiterns vor vier Jahren zu tragen hat, an der Niederlage gegen Freund Dominic Thiem im Geisterhaus des Arthur Ashe-Stadions?

Niederlage im Finale 2020 gegen Thiem

48 Monate nach diesem Thriller ohne Happy-End hat man manchmal den Eindruck, dass immer irgendetwas zwischen dem Weltranglisten-Vierten Zverev und seinem großen Grand Slam-Traum steht. Mal das Verletzungspech, mal die Flatterhaftigkeit bei den Big Points, mal Gegner, die anders als er in kritischen Situationen das Unmögliche möglich machen – und nicht umgekehrt. Gegen Thiem war er im Endspiel 2020 nur zwei Punkte vom Triumph weg, nun scheint die Distanz zum großen Glück eher gewachsen. Sprechen Konkurrenten wie Novak Djokovic, der Rekordchampion bei den Majors, über Zverev, dann klingt das zuweilen unfreiwillig leicht vergiftet. Zverev habe eigentlich alles, was man für einen Grand Slam-Sieg brauche, sagte Djokovic unlängst, er werde sicher bald einmal eine Trophäe in die Höhe halten. Es klang bei aller Wertschätzung des Serben für den Hanseaten wie der ominöse Zeugniseintrag, er habe sich bemüht.

Bitter enttäuscht: Alexander Zverev im September 2020 in New York nach seiner Final-Niederlage gegen Dominic Thiem.
Bitter enttäuscht: Alexander Zverev im September 2020 in New York nach seiner Final-Niederlage gegen Dominic Thiem. © AFP | Al Bello

Im modernen Tenniswesen gibt es für alles Mögliche Statistiken und Wertungen. Zverev, zum Beispiel, liegt in einer scheinbar schlüssigen Bilanz der laufenden Spielserie ganz vorne, mehr als seine 52 Siege hat niemand im Kosmos des Wanderzirkus auf dem Konto. Aber der Olympiasieger von Tokio hat eben nicht die wichtigen Matches im Jahr 2024 gewonnen, eher untermauert das Leistungs-Attest den Vorwurf, dass dem Deutschen zu oft ein oder mehrere Puzzleteile zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk fehlen. Bei den drei Grand Slams dieser Saison lag Zverev stets mehr oder weniger deutlich vorne, bevor er diese Topmatches verlor – 2:0 nach Sätzen im Halbfinale der Australian Open gegen den Russen Daniil Medwedew, 2:1 gegen Spaniens Wunderknaben Carlos Alcaraz im Endspiel der French Open und 2:0 im Wimbledon-Viertelfinale gegen den Amerikaner Taylor Fritz. Es war ein Hattrick des bitteren Scheiterns, jeweils in Schlagdistanz zum Pokalsieg.

Zverev sieht sich „ziemlich gut in Schuss“

Einige Wochen schleppte sich Zverev auch wieder mit körperlichen Problemen über die Courts, offenbar hatte ihm das dicht gedrängte Programm zugesetzt. „Da hat der Körper nicht mehr richtig mitgespielt. Der Tank war leer, die Erschöpfung groß.“ Zuletzt fühlte er sich in Cincinnati wieder besser, glaubt jetzt auch, wieder „ziemlich gut in Schuss zu sein und „Chancen zu bekommen“ im Big Apple. Aber plötzlich meldete sich jüngst ein alter, unliebsamer Freund Zverevs zurück – der Doppelfehler. In manchen Spielen reihte er trotz Erfolgs eine zweistellige Zahl von Doppelfehlern aneinander, wie in schlimmeren Zeiten der Vergangenheit. Wie gesagt: Irgendwas ist immer.

Vielleicht hilft Zverev, dass in diesem US Open-Jahr erst mal keiner so richtig hinschaut bei ihm. Andere sind im Fokus: Jannik Sinner nach dem Dopingwirbel, Novak Djokovic nach dem Olympiasieg von Paris, Alcaraz nach der tränenreichen, äußerst schmerzvollen Finalniederlage auf der olympischen Bühne. Und natürlich der US-Trupp von Spielern um Taylor Fritz und Frances Tiafoe, die mit Außenseiterchancen ans Werk gehen. Schafft Zverev den großen Schlag, den Grand Slam, in einem Moment, in dem keiner so recht an ihn glaubt?