Paris. Jüdische Sportler kommen kaum zum Durchatmen – nicht bei ihren Wettkämpfen, sondern im Alltag bei Olympia. Wie sie damit umgehen.
Ihre Einladung erhielt Timna Nelson-Levy wenige Tage vor Beginn der Olympischen Spiele in Paris. Sie sei dort herzlich willkommen, schrieb der unbekannte Absender auf ihr Handy – zu ihrer eigenen Beerdigung. Nun ist die 30 Jahre alte Judoka abgeklärt genug, damit umzugehen. Drohungen dieser Art sind, ein Teil der traurigen Wahrheit, nichts Neues mehr.
Für viele jüngere der 88 israelischen Athleten, die Israel in Frankreich repräsentieren, waren die vermutlich von iranischen Hackern verschickten E-Mails dagegen ein Schock. Dass persönliche Daten der Sportler publik wurden, noch bevor das olympische Feuer entzündet wurde, beunruhigte.
Israel bei Olympia in Paris: Zwischen Terror und Träumen
52 Jahre nach den Attentaten auf jüdische Sportlern bei den Olympischen Spielen in München, bei denen elf Sportler getötet wurden, ist die Furcht vor einer neuerlichen Katastrophe allgegenwärtig. Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen nahezu lückenlos sind, kann maximal die Kulisse eines möglichst normalen Olympia-Alltags erzeugt werden.
Yaniv Tuchman ist es gewohnt, bei Olympischen Spielen mit Gefahrenherden konfrontiert zu werden – eigentlich. 2016 in Rio de Janeiro war es das Zika-Moskito, 2021 in Tokio Corona. „Aber hier ist es anders“, sagt der Journalist des Portals „Walla“. So wie sowieso alles anders ist für Israel seit dem 7. Oktober 2023, als die bestialischen Morde der palästinensischen Terrororganisation Hamas den Kriegsbeginn einläuteten und auch 45 potenzielle Olympioniken starben.
„Es ist wirklich furchteinflößend“, sagt Tuchman. Seine Akkreditierung, auf der die Abkürzung „ISR“ seine Herkunft verrät, trägt er im öffentlichen Raum nicht. „Wenn ich mit meinen Kollegen in der Metro fahre, sprechen wir Englisch statt Hebräisch. Wir müssen clever sein, wir sind nicht hergekommen, um uns unnötigen Risiken auszusetzen“, sagt er.
Israels Sport war zuletzt auf dem aufsteigenden Ast
Wofür die Israelis stattdessen nach Paris gekommen sind, stellt Yael Arad klar. Die 57-Jährige gewann 1992 Barcelona mit Silber im Judo die erste olympische Medaille jemals für ihr Land. Heute leitet sie das Nationale Olympische Komitee. „Wir sind hier, um auf der größten Bühne der Welt Erfolge zu feiern“, sagt Arad.
Zunächst möchte sie über Sport sprechen, darauf ist sie stolz. Bis 2016 holten israelische Sportler 37 Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympia, seitdem kamen schon 34 weitere dazu. „Sport hat eine große Bedeutung für uns, wir investieren viel, um wettbewerbsfähiger zu bleiben“, sagt Arad.
NOK-Chefin Yael Arad: „Unsere Athleten sind die resilientesten der Welt“
Dann muss sie über das Unvermeidliche sprechen. Besonders vor dem Hintergrund des Hisbollah-Anschlags, der am Sonnabend zwölf Kinder das Leben kostete, und der Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, notfalls in Israel einzumarschieren. „Wir leben permanent in zwei Parallelwelten zwischen Trauer und Träumen, hier Medaillen zu gewinnen“, sagt Arad.
Ihren Sportlern habe sie gesagt, sie sollen versuchen, Kraft aus der Situation zu ziehen. „Unsere Athleten sind die resilientesten der Welt.“ Auch darauf ist sie stolz. „Aber ich kann nicht behaupten, dass sie das unbeeindruckt lässt“, sagt Arad. „Natürlich kannst du dich nicht komplett auf deinen Wettkampf fokussieren, wenn unser Land leidet“, bestätigt Nelson-Levy. Allein der Versuch ist da.
Algerier tritt nicht gegen israelischen Judoka an
Undercover-Agenten des Geheimdienstes Mossad überwachen alles. „Früher konnten wir mit den Athleten abhängen, hier besteht keine Chance darauf“, sagt Tuchman. Im olympischen Dorf seien 99 Prozent der Interaktionen freundlich, sagt Arad. Nur vereinzelt kam es bei Wettkämpfen bislang zu Provokationen der Zuschauer. „Aus meiner Sicht gehört das nicht hierhin“, sagt Nelson-Levy, „Sport sollte Sport bleiben.“
Blieb es aber nicht. Als ihr Landsmann Tohar Butbul am Montag um 10 Uhr zu seinem Erstrundenkampf Matte eins der Arena Champ de Mars betritt, beginnt ein absurdes Schauspiel. Der 30-Jährige verneigt sich und wird anschließend direkt zum Sieger erklärt. Sein algerischer Gegner Messaoud Redouane Dris konnte nicht antreten. Der 22-Jährige wurde disqualifiziert, weil er 400 Gramm mehr als die maximal erlaubten 73 Kilogramm wog.
Weltverband will Vorfall untersuchen, Sportler droht Sperre
Ein bewusster Akt, der bereits im Vorwege erwartet worden war. „Niemand ist so unprofessionell, übergewichtig zu einem olympischen Wettkampf zu kommen“, sagt Arad. Die Wahrheit dahinter: Der algerische Verband wollte seinen Kämpfer nicht gegen einen Israeli antreten lassen und opferte der Ideologie den eigenen Athleten.
Der Judo-Weltverband will den Vorfall nun untersuchen. „Der Sport soll frei von Einflüssen internationaler Konflikte bleiben. Leider werden Sportler oft Opfer größerer politischer Auseinandersetzungen, die den Werten des Sports zuwiderlaufen“, hieß es in einem Kommuniqué.
Tadschike verweigert seinem israelischen Gegner den Handschlag
„So sollten wir im Sport nicht handeln, das widerspricht den olympischen Werten“, sagt IOC-Funktionärin Arad. Dass in der Konsequenz womöglich nur der Sportler gesperrt wird, hält sie für den falschen Weg. „Man sollte bei den Verbandsoberen ansetzen, die die Strippenzieher dahinter sind“, sagt die Europameisterin von 1993.
Die Posse um Butbul, der nicht darüber sprechen wollte, war nicht die einzige in der Anfangsphase der Olympischen Spiele. Am Sonntag hatte der tadschikische Judoka Nuralo Emomali dem Israeli Baruch Shmailov den nicht verpflichtenden, aber obligatorischen Handschlag verweigert und stattdessen den häufig von Terroristen missbrauchten Schlachtruf „Allahu akbar“ gebrüllt. Zumindest hier traf die Strafe den Richtigen: Emomali schied wenig später mit einer Schulterluxation aus. Der Verband wurde hingegen nicht tätig.
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Das Aus traf auch Nelson-Levy in der zweiten Runde. In den nächsten Tagen will sie zurück in ihr leidendes Land fliegen. Dort fühlt sie sich zumindest willkommen.