Berlin. Harry Kane jagt einem Titel nach. Der 30-Jährige ist körperlich nicht in bester Verfassung, aber für England dennoch unverzichtbar.
Fast ein ganzes Jahr ist Harry Kane schon durch Deutschland getourt und hat die wichtigsten Stadien kennengelernt: fürwahr beeindruckende Kathedralen wie in Dortmund bis hin zu merkwürdigen Konstrukten wie der in Heidenheim. Doch das Berliner Olympiastadion als Schauplatz des EM-Endspiels zwischen England und Spanien an diesem Sonntag (21 Uhr/ARD und Magenta TV) betritt dieser Fußballer von Welt in dieser Saison zum ersten Male. Hertha BSC spielt bekanntlich nicht mehr in der Bundesliga, und um das hier ausgetragene DFB-Pokalfinale machte der FC Bayern einen großen Bogen, weil Ex-Trainer Thomas Tuchel seinem Stareinkauf einst im Herbst vergangenen Jahres die Schmach in der verloren gegangenen Zweitrundenpartie im Saarbrücker Ludwigspark ersparte. Englands Kapitän kann sich für die Kollegen also nicht darauf berufen, die Laufwege in dieser riesigen Betonschüssel schon zu kennen, dennoch wird der Rekordtorjäger die „Three Lions“ sicher ohne Umwege ins Finale aufs Feld führen. Am Arm seine neongelbe Binde, auf der in Großbuchstaben „Respect“ steht.
EM 2024: Viel Kritik an Harry Kane aus England
Braucht der 30-Jährige das nicht auch? Da weist einer nach 97 Länderspielen stolze 66 Tore nach, musste sich dennoch zwischenzeitliche einige Kritik anhören. Aber war er wirklich umstritten? Wohl kaum. Die personifizierte Torgarantie – selbstredend Bundesliga-Torschützenkönig mit 36 Treffern – hat in dieser EM dreimal getroffen. Einmal zwar vom Elfmeterpunkt, aber jenen im Halbfinale gegen die Niederlande souverän in die Ecke gefeuerten Versuch hatte er selbst herausgeholt. Der Siegtreffer gelang dem fidelen Ollie Watkins, für den der ausgepumpte Kane nach 81 Minuten Platz gemacht hatte. Der Mittelstürmer hatte sich am Ende dieses Abnutzungskampfes immer schwerfälliger über den Platz geschleppt – und ist erkennbar gerade nicht in bester körperlicher Verfassung. Oft laufen die Spiele trotz allen Bemühens an ihm vorbei. Er will zwar viel, aber er kann nicht richtig. Und dass er mitunter vorne ganz alleine war, machte es nicht einfacher.
Die Auswechslung des Anführers wirkte schon im Achtelfinale gegen die Schweiz nachvollziehbar, dennoch musste sich Trainer Gareth Southgate in Düsseldorf und Dortmund ausgiebig rechtfertigen. Die Begründung, warum seine Nummer neun stets beginnt, ist simpel: „Er ist vielleicht nicht im Fluss, aber er spielt immer noch eine immense Rolle für die Gruppe.“ Vielleicht weniger als Torjäger und mehr als Teamplayer. Der in London geborene Kane war derjenige, der Trainer und Team beschützte, als der über riesige Reichweite verfügende Gary Lineker mal wieder die große Keule geschwungen hatte. Die Replik des Nachfolgers saß: „Ich würde nie respektlos gegenüber einem ehemaligen Spieler sein. Ich würde sagen, dass sie sich einfach daran erinnern sollten, wie es war, das Trikot zu tragen, und dass ihre Aussagen gehört werden.“
EM 2024: Englands Trutzburg hält bis zum Finale
Besser hätte einer die Trutzburg in Thüringen nicht verteidigen können. Es gibt aus dem Basecamp in Blankenhain eine Menge Kurzclips, in denen Kane mit Kollegen auf dem Golfplatz oder an der Dartscheibe gute Laune verbreitet. Nach dem Finaleinzug führte er eine Troika von Führungskräften an, die sich ausgiebig bei den Fans bedankte. Er sprach lange mit Kyle Walker, mit dem er so viele Jahre bei den Tottenham Hotspur zusammenspielte. Der Verteidiger ist noch mal vier Jahre älter: Sie kennen die Historie der englischen Nationalmannschaft aus eigener Erfahrung am besten – und sie spüren am ehesten, um was es gegen die Iberer geht. „Wir hatten unsere Momente in diesem Turnier. Wenn wir die am Sonntag nochmal haben, sind wir am Ziel und Champions“, sagte Kane.
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Bei keinem anderen steht nach „einer verdammt harten Reise“ (O-Ton Kane) so viel auf dem Spiel. Es mutet wie Ironie an, dass dieser großartige, weil oft uneigennützige Goalgetter noch nie eine Trophäe gewonnen hat. Weder im Nationalteam noch auf Vereinsebene. Als er vergangenen Sommer unter großem Brimborium für rund 100 Millionen Euro Ablöse von seinem Heimatverein Tottenham zu den Bayern übersiedelte, schien es eine Selbstverständlichkeit, zumindest mal eine Meisterschale in der Hand zu halten. Dann hat es mit ihm in München die erste titellose Spielzeit seit einer gefühlten Ewigkeit gegeben. Aber ein Spiel gibt es noch. In der deutschen Hauptstadt, in der Harry Kane erst ganz am Ende dieser Saison vorstellig wird.