Iserlohn. Titelverteidiger Italien geht mit zahlreichen Problemen in die EM 2024. Aber: In der Vergangenheit folgten gerade dann große Erfolge.
Applaus brandet auf und aus Tausenden Kehlen erschallt immer wieder das eine Wort: „Gigi, Gigi, Gigi!“ Gianluigi Buffon hat den Rasen des Iserlohner Hembergstadions betreten, wo die italienische Nationalmannschaft am Dienstagnachmittag ein öffentliches Training veranstaltet. 4000 Menschen sind gekommen, sehr viel mehr noch hatten sich um die kostenlosen Tickets bemüht und einige, die leer ausgegangen sind, drängen noch am Tor und rund um die Zäune und versuchen, einen Blick auf ihre Idole zu erhaschen, die während der Europameisterschaft in Iserlohn untergebracht sind.
Und der größte Star ist noch immer jener Buffon, inzwischen 46 Jahre alt und seit einem Jahr, man mag es kaum glauben, tatsächlich kein aktiver Fußballer mehr, sondern Delegationschef der italienischen Nationalmannschaft. Zumindest bekommt der noch immer bewundernswert akkurat frisierte Ex-Profi deutlich mehr Applaus als die aktuellen Nationalspieler, die wenige Minuten zuvor den Rasen betreten haben.
Nicolo Barella ist Italiens Bester – und droht auszufallen
Klar, es gibt auch im Kader den einen oder anderen großen Namen, Torhüter Gianluigi Donnarumma etwa, in der Abwehr Giovanni di Lorenzo und im Mittelfeld Nicolo Barella, der wohl wichtigste Akteur, der sich aber mit Oberschenkelproblemen ins Turnier schleppt und im Auftaktspiel gegen Albanien am Samstag in Dortmund (21 Uhr/ARD und Magenta) auszufallen droht. Am Dienstag kann er nur laufen, nicht mitkicken.
Ja, sie haben ihre Probleme, die Italiener, sie sind zwar Titelverteidiger, aber zum Kreis der ganz großen Favoriten zählen sie nicht. Zu ihrer jüngeren Geschichte zählen ja auch die verpassten Weltmeisterschaften 2018 und 2022. Und im Sturm fehlt eine verlässliche Lösung. In der Qualifikation war Davide Frattesi bester Torjäger – mit drei Treffern. Überhaupt lief diese Qualifikation schleppend, erst ein 0:0 am letzten Spieltag gegen die Ukraine sicherte die Turnier-Teilnahme auf Platz zwei hinter England. Das vorletzte Testspiel gegen die Türkei (0:0) war wenig ansehnlich, das 1:0 gegen Bosnien-Herzegowina immer hin ein wenig besser.
In der EM-Vorbereitung gab es für Italien viele Störgeräusche
Und dann die ständigen Störgeräusche: Weniger als ein Jahr vor der EM wechselte Nationaltrainer Roberto Mancini Knall auf Fall nach Saudi-Arabien, in Meistertrainer Luciano Spalletti vom SSC Neapel fand sich allerdings ein hervorragender Ersatz. Und der immerhin ist zuversichtlich: „Auch 2021 hat Italien auf dem Papier nicht zu den stärksten Teams gezählt“, sagt er. „Titelverteidiger zu sein, ist für uns ein Ansporn.“ Dafür setzt er vor allem auf eine perfekt abgestimmte Mannschaft, am Dienstag schiebt er die Spieler in den Pausen immer wieder wie Schachfiguren über den Rasen, in die genau richtigen Positionen.
Es soll nur noch um Fußball gehen in Iserlohn, nicht um die ganzen Skandale der vergangenen Monate. Die Rassismus-Vorwürfe gegen Francesco Acerbi spielen keine große Rolle mehr, weil der Abwehrspieler das Turnier verletzt verpasst, was wiederum die Personalsorgen vergrößert. Der Manipulationsskandal, der Italiens Fußball im Herbst 2023 erschütterte, wirft seine Schatten aber bis ins Sauerland. Nach den Vorwürfen gegen die Nationalspieler Sandro Tonali, Nicolò Zaniolo und Nicolò Fagioli rückte damals sogar die Polizei im Trainingszentrum der Nationalelf in Coverciano bei Florenz an. „Das war ein Trauma für die Mannschaft“, sagte Spalletti. Der hochveranlagte Tonali fehlt nun gesperrt, Fagioli dagegen ist wieder dabei – obwohl seine siebenmonatige Sperre erst im Mai ablief.
In der Vergangenheit folgten auf Skandale große Erfolge
All die Skandale aber müssen kein Nachteil sein, findet Buffon: „Wir haben gerne und oft eine schlechte Figur gemacht, wenn wir von der Pole Position gestartet sind“, sagt er. „Wenn wir dagegen eine Reihe dahinter gestartet sind, waren wir oft für eine Überraschung gut.“ Er muss es wissen. 2006 etwa erschütterte ein Manipulationsskandal den italienischen Fußball, doch die Mannschaft mit Buffon im Tor ließ sich davon nicht beeindrucken, schrieb bei der WM in Deutschland ihr ganz eigenes Sommermärchen, stand am Ende im Finale und schlug auch die favorisierten Franzosen. Seine Augen leuchten noch heute, wenn Buffon an jene Nacht von Berlin denkt. Und vielleicht, so hofft er zumindest, können die jüngsten Ereignisse auch die aktuelle Generation zusammenschweißen.
Klar ist: Der Druck ist schon zum Auftakt gewaltig, ein Punktverlust gegen Albanien könnte schon das EM-Aus bedeuten. Denn die hochkarätigen Gegner in dieser anspruchsvollen Gruppe kommen erst danach, nämlich Spanien (20. Juni) und Kroatien (24. Juni). Buffon setzt vor allem Emotionen entgegen – und die auch die Unterstützung der großen italienischen Gemeinde in und um Iserlohn: „Italien anzufeuern, ist immer emotional“, sagt er. „Es ist das einzige Ereignis, bei dem wir alle zu Brüdern werden. Das ist die wahre Magie der Nationalelf.“
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