Herzogenaurach. Julian Nagelsmann will Deutschland als Bundestrainer bei der EM glücklich machen. Das hat vor allem mit einem Schicksalsschlag zu tun.
Julian Nagelsmann saß gerade in einem Seminarraum in Oberhaching, als ihn der Lehrgangsleiter darum bat, aus der Tür zu gehen. Der 20-Jährige riss noch ein paar Sprüche („bin ich schon zu gut?“), ehe vor dem Raum sein damaliger Schwiegervater vor ihm stand und ihm mitteilte, dass sein Papa sich umgebracht habe. Eine Nachricht, die dem Trainerlehrling „den Boden unter den Füßen“ wegzog. „Ich bin einfach nur durch das Haus gelaufen. Als ich zu Hause war und meine Geschwister und meine Mutter sah, habe ich das erste mal richtig geweint“, sagte Nagelsmann in der vergangenen Woche im Spielmacher-Podcast mit 360Media und Sebastian Hellmann.
16 Jahre ist dieser Tag nun her, der das Leben des heutigen Bundestrainers von einem Moment auf den anderen komplett verändern sollte. Und der entscheidend dafür war, dass Nagelsmann im vergangenen Oktober mit nur 36 Jahren das wichtigste Traineramt in Deutschland übernahm und am Freitag der jüngste Bundestrainer der deutschen Fußballgeschichte ist, der die deutsche Nationalmannschaft in einem großen Turnier begleitet: der Europameisterschaft im eigenen Land.
Nagelsmann: „Ich wollte nur draußen sein, Dinge erleben“
Vor vier Monaten hat Nagelsmann erstmals offen über das bis dahin geheime Berufsleben seines Vaters gesprochen. Dieser habe für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet, sagte Nagelsmann in einem Interview mit dem „Spiegel“. Die berufliche Situation seines Vaters sei nicht immer einfach gewesen. „Es würde mich freuen, wenn er weiß, dass ich Fußballtrainer bin“, sagte Nagelsmann über den Verlust seines Vaters.
In Momenten wie diesen fühlt der Fußballtrainer vor allem einen Drang: Ab in die Alpen. Dort findet Nagelsmann den nötigen Abstand zu seinem Alltag. So oft es geht, zieht es den Oberbayer in die Berge. „Unser Vater zeigte uns, wie schön die Berge sind. Er hat viel gearbeitet, aber wann immer es ging, hat er versucht, in der Natur zu sein. Das hat sich sehr auf mich übertragen. Ich hatte als Kind keinen Gameboy, keine Playstation, ich wollte nur draußen sein, Dinge erleben“, sagte Nagelsmann im „Spiegel“.
Heute erlebt Nagelsmann Dinge, die kein anderer erlebt. Er wird der erste Bundestrainer seit Jürgen Klinsmann, der am Freitag beim EM-Auftakt gegen Schottland eine deutsche Mannschaft bei einem Heimturnier coachen darf. Er wurde mit 28 Jahren in Hoffenheim zum jüngsten Trainer der Bundesliga, stand vier Jahre später mit RB Leipzig im Halbfinale der Champions League und wechselte vor drei Jahren für die Rekordablösesumme von 25 Millionen Euro zum FC Bayern München. Nagelsmann hat schon viele Rekorde gebrochen und Superlative über sich gelesen.
Mit dem Mountainbike in die Alpen
Aber er hat eben auch früh gelernt, dass es im Leben nicht immer nur bergauf geht. Seine eigene Karriere musste Nagelsmann, in der U17 Kapitän bei 1860 München, beenden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Knorpelschaden im Knie. Dann der Tod seines Vaters. Nagelsmann lernte mit 20, Verantwortung für seine Familie zu übernehmen, vor allem für seine Mutter. Ihr half er, das Elternhaus im heimischen Issing zu verkaufen. Hier im Landkreis Landsberg, eine Autostunde von den Alpen entfernt, wuchs der Naturliebhaber Nagelsmann als jüngstes von drei Kindern auf. Heute hat er mit seiner Ex-Frau Verena selbst zwei Kinder.
Dass der Bayer mit den Berg- und Talfahrten des Fußballgeschäfts gut umgehen kann, liegt auch daran, dass er das Bergauf und Bergab schon immer geliebt hat. Wenn Nagelsmann seinen Kopf frei kriegen will, setzt er sich auf sein Mountainbike und fährt in die Berge. Am liebsten hinauf auf die Kampenwand, den 1669 Meter hohen Berggipfel in den Chiemgauer Alpen. Oder hinab am Hangman II im Bikepark Saalbach-Hinterglemm.
Schon seit vielen Jahren bereitet Nagelsmann seinen großen Lebenstraum vor. Eine Alpenüberquerung mit dem Mountainbike. Eine Siebentagestour von Garmisch über die Schweiz zum Gardasee will Nagelsmann in fünf Tagen schaffen. Ein Expeditionszelt für zwei Personen hat er schon, den Gaskocher ebenfalls. Nur die Zeit hatte der Bundestrainer bislang nicht. Seine Bergtour ist jetzt die Aufgabe, die deutsche Nationalmannschaft bis zur WM 2026 wieder an die Weltspitze zu führen.
Als Fußballtrainer ist Nagelsmann heute vor allem eines: Ein Perfektionist. Wer mit Wegbegleitern seiner Trainerkarriere spricht, bekommt das Bild eines Mannes, der nichts dem Zufall überlässt. Dass er schon als junger Trainer bei den Spielern eine Autorität erzeugen konnte, lag an seinem außergewöhnlichen taktischen Wissen und der Fähigkeit, dieses seinen Spielern zu vermitteln. In seiner Schublade seines Trainerbüros liegen Fotos seiner Flipcharts mit allen Taktiken, die er als Trainer entwickelt hat. Ausgedruckt und in einen Block geklebt.
Klare Rollenprofile fürs DFB-Team
Vor zwei Jahren fing Nagelsmann zudem an, Notfallpläne für alle Spielphasen und Situationen zu erstellen, um auf alle Wahrscheinlichkeiten und Situationen vorbereitet zu sein. So wie am vergangenen Freitag, als er nach einer enttäuschenden ersten Halbzeit gegen Griechenland reagierte, seinen Matchplan veränderte und somit das Spiel noch in einen Sieg drehen konnte. Während des Spiels ruft Nagelsmann dann „Notfallplan“ zu seinen Spielern.
Für die EM hat der Bundestrainer schon vor Monaten klare Rollenprofile entwickelt und diese auch jedem Spieler in einem persönlichen Gespräch erklärt. Eine Maßnahme, zu der er sich durch eine Dokumentation über die deutsche Basketball-Nationalmannschaft inspirieren ließ, die im vergangenen September sensationell Weltmeister wurde. „Jeder Einzelne kannte Monate vor dem Turnier seine Rolle“, sagte Nagelsmann. Entstanden ist daraus ein Besuch von Basketball-Bundestrainer Gordon Herbert am vergangenen Mittwoch im deutschen EM-Quartier in Herzogenaurach. In dieser Woche kriegen die Nationalspieler noch Besuch von einem bekannten Musiker. Die Tage bis zum EM-Start am Freitag hat der Perfektionist komplett durchgetaktet.
Es gibt aber auch noch den anderen Nagelsmann. Den jugendlichen Kindskopf, der durch die Ereignisse in seinen jungen Jahren seinen Spieltrieb nicht immer so ausleben konnte, wie er das gerne getan hätte. Als Trainer in Leipzig bestellte Nagelsmann mal kurzerhand eine Packung Spielzeugpistolen der Marke Nerf mit Schaumstoffpfeilen. Es folgte eine lautstarke Schlacht im Trainerbüro, durch das die Pfeile flogen. Und als im Winter in Leipzig mal Schnee lag, ließ sich Nagelsmann auf einem Platz hinter dem Trainingszentrum, auf dem sonst der Jahrmarkt stattfindet, auf einem Snowboard von einem Bullifahrer im Kreis drehen.
Als Trainer in München war es dann aber meistens das Mountainbike, mit dem er regelmäßig die 15 Kilometer vom Münchner Norden bis zur Säbener Straße hin- und zurücklegte. In dieser Zeit lernte der immer noch junge Trainer, dass insbesondere beim FC Bayern solche Aktionen auch mal missverstanden werden. Seine Fahrt zum Training mit einem Longboard sorgte für Diskussionen, ob er dadurch die Autorität bei seinen Spielern verloren haben könnte.
Nagelsmann gilt als entscheidungsfreudiger Bundestrainer
Von mutigen Entscheidungen lässt sich Nagelsmann durch solche Reaktionen aber nicht abhalten. Auch als Nationaltrainer wird er als extrem entscheidungsfreudig beschrieben. „Den Mut für Entscheidungen habe ich definitiv von meinem Papa“, sagte Nagelsmann mal. Auch beim DFB scheut sich Nagelsmann nicht, für seinen Titeltraum neue Ideen umzusetzen. „Es war ein Angstklima beim DFB. Das haben wir geändert“, sagte er kürzlich. Nagelsmann will unterhalten, nicht verwalten.
Um sein persönliches Glück zu finden, muss der Landsberger aber in die Natur. Der leidenschaftliche Fußballlehrer hat die feste Überzeugung, mit 50 seiner noch größeren Leidenschaft nachzugehen einen anderen Weg einzuschlagen. Den Weg zum Outdoorguide. Mehrere Tage nur mit dem Zelt unterwegs sein. Leute an ihre Grenzen bringen. Vielleicht sogar seine eigenen Firma gründen. „In den Bergen bin ich unglaublich glücklich“, sagt Nagelsmann.
Glück heißt auch einer der ganz wenigen Freunde, mit denen der Bundestrainer über private Probleme sprechen kann. Benjamin Glück (38), Co-Trainer in der Nationalmannschaft, begleitet Nagelsmannn als Videoanalyst schon seit seiner Zeit in Hoffenheim. Glück darf seinen Chef und Freund sogar „Hacki“ nennen, weil dieser offenbar einen guten Hackbraten zubereiten kann.
Zu den Nagelsmann-Vertrauten zählten lange auch zwei Privattrainer, die ihn zu Beginn seiner Karriere begleiteten. Einen persönlichen Coach und einen, der sich um seine Psyche und die Fähigkeit kümmerte, einfach mal abzuschalten. Nagelsmann erzählte mal, dass er zum Einschlafen mittlerweile ein Gerät nutzt, um zusätzlich Sauerstoff aufzunehmen. Vor wichtigen Spielen konnte er früher selten vor 4 Uhr nachts einschlafen.
Mentaltraining ist Nagelsmann wichtig. Von seinem ehemaligen Teampsychologen Maximilian Pelka, den er in Leipzig kennenlernte und mit nach München nahm, ließ er sich mal die wichtigsten Inhalte verschiedener Bücher zum Thema Mindset und Mentaltraining zusammenfassen, weil ihm selbst die Zeit zum Lesen fehlte.
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Wenn Nagelsmann mal Zeit hat, zieht es ihn nach draußen. Mit dem Mountainbike. Oder dem Motorrad. Für den impulsiven Trainer ist das noch immer sein bestes Mentaltraining. Es sind die Momente, in denen er auch immer mal wieder an seinen Vater denkt. Auch für ihn will Nagelsmann nun seinen ersten großen Titel als Nationaltrainer holen. Und später mit Stolz an die EM-Tour zurückdenken, wenn er mal als Wanderführer in den Bergen arbeitet.
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