London. Toni Kroos tritt bei Real Madrid mit seinem sechsten Champions-League-Triumph ab. Seine Karriere kann er nun bei der EM krönen.
Für Carlo Ancelotti gab es kein Entkommen. Eine ganze Schar Reporter hetzte die Treppenstufen im Presse-Saal des Wembley-Stadions hinunter, um noch einen klugen Gedanken des Misters einzufangen. Ancelotti wurde belagert wie ein Pop-Star. Real Madrids Trainer beantwortete Frage um Frage, duldete alle Mikrofone und Smartphone-Kameras, mit denen die Journalisten vor seinem Gesicht herumfuchtelten. Immer zwei, drei Fragen. Dann wühlte sich Ancelotti einen halben Schritt nach vorne. So ging es minutenlang.
„Don Carlo“, seit Samstag fünfmaliger Champions-League-Sieger als Trainer, schwebt längst über allem. Mit väterlicher Gelassenheit erklärte der Italiener, wie es Real mal wieder geschafft hatte, den Henkelpott zu stibitzen. Mit 2:0 gewannen die Madrilenen auf die für Gegner Borussia Dortmund schmerzhafteste Weise. Danach tanzte er mit seinen Spielern auf dem Rasen um die Wette.
Real Madrid: Carlo Ancelotti schwärmt von Toni Kroos
Der fast 65-Jährige pflegt ein inniges Verhältnis zu den Profis, die altersmäßig seine Söhne sein könnten. Besonders zu Toni Kroos, 34, seit Samstag sechsmaliger Triumphator in der Königsklasse. Ihre Wege werden sich nun trennen, Kroos beendet seine große Karriere nach der Europameisterschaft. Der Final-Erfolg über den BVB war der perfekte Abschluss.
„Er ist eine Legende in diesem Verein, und wir alle danken ihm dafür, was er getan hat. Nicht nur durch sein Spiel, sondern auch durch seine Einstellung, seine Professionalität. In zehn Jahren hat er noch nicht einen einzigen Tag verpasst“, schwärmte Ancelotti. Gemeinsam mit seinem über viele Jahre kongenialen Mittelfeld-Partner Luka Modric, Abwehrspieler Nacho und Francisco „Paco“ Gento, eine Real-Legende aus den 1950er- und 1960er-Jahren, ist er nun Rekordsieger von Europas wichtigstem Klub-Wettbewerb. Kroos gewann fünfmal mit Madrid, nachdem er – ebenfalls in Wembley gegen den BVB – 2013 mit Bayern München bereits den Pokal holte. Zum Vergleich: Real Madrid und die AC Mailand sind die beiden einzigen Klubs, die mehr als sechs Titel gewonnen haben.
Real Madrid: Toni Kroos legt Daniel Carvajal das 1:0 auf
„Das ist schwer zu beschreiben“, sagte Kroos. „Als ich es mir mit der Entscheidung überlegt hatte, hatte ich es mir so ausgemalt. Dass es dann am Ende so passiert, ist Wahnsinn. Irgendwie können wir diese Finals nicht verlieren. Ich weiß nicht warum, aber es ist gut so.“
Dabei sorgte Kroos in London selbst dafür, dass Reals unglaubliche Endspiel-Serie fortbestehen konnte. Der Regisseur zirkelte einen seiner gefürchteten scharfen Eckstöße auf den kurzen Pfosten. Daniel Carvajal hob ab, köpfte den Ball ins lange Eck. Ein Tor, das den lange überlegenen BVB schockierte. „In dem Wissen, dass mein letztes Spiel für Real ein Champions-League-Finale ist, war es mir wahnsinnig wichtig, das zu gewinnen“, meinte Kroos. „Auch, wenn ich immer gesagt hatte, dass das nichts an meiner Karriere ändert. Das war aber auch ein kleiner Verteidigungsreflex.“
Seinen letzten großen Tanz will Kroos für die Nationalmannschaft hinlegen. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte ihn im März reaktiviert. Zu attraktiv schien Kroos die Gelegenheit, ein Turnier im eigenen Land zu spielen. Zu verlockend ist die Möglichkeit, in seine Pokal-Vitrine auch noch die Trophäe für den EM-Titel stellen zu können. Der Greifswalder wäre dann endgültig in der Riege von Deutschlands Fußball-Göttern um Franz Beckenbauer angekommen. „Wenn ich ein Turnier spiele, dann will ich es natürlich gewinnen“, betonte Kroos.
Real Madrid: Toni Kroos geht mit großen Zielen in die EM
In Madrid ist Kroos eine lebende Legende, in Deutschland fremdelten die Fans häufig mit ihm. Der Bälleverteiler beklagte fehlende Wertschätzung, fühlte sich wie ein missverstandener Künstler. Dessen spätes Werk aber erhält nun endlich die gebührende Anerkennung: Was man an jemandem hat, merkt man erst, wenn diese Person nicht mehr spielt. Keine Überraschung also, dass Kroos‘ Rückkehr in die Nationalmannschaft im März hierzulande endlich Zuversicht für die EM ausgelöst hat. „Ich glaube, wir haben es geschafft, die Stimmung ein bisschen ins Positive zu drehen“, befand er am Samstag. „Trotzdem sind wir in meinen Augen weit weg davon, ein Favorit zu sein.“
Noch einmal zurück zu Carlo Ancelotti, der genauso hartnäckig wie Reporter sein kann. Er würde den Familienvater Kroos gerne zum Rücktritt vom Rücktritt bewegen, doch die Erfolgsaussichten sind verschwindet gering. Der Profi will nur noch Papa sein. „Wir hoffen, er ändert seine Meinung,“ sagte Ancelotti, „und wenn er das tut, sind wir da.“ So wie es auch Real Madrid wieder einmal im Finale von Wembley war.